Durch die Kanzel sahen sie den dunkelroten Hang der uralten Rutschung zu ihrer Linken wie eine Himmelstreppe ansteigen. Die vor ihnen aufragenden Felswände wurden von der hübschen, sanften Steigung verhüllt, die sich bis zur obersten Gesteinsschicht und der Ebene hinaufzog, auf der sie zur Kuppel zurückfahren konnten.
Auf Connors’ dunklem Gesicht erschien ein breites Grinsen. Er drehte sich in seinem Sitz um, sagte aber nichts. Dann flüsterte er Jamie zu: »Die beiden da hinten sind eingeschlafen.«
»Schon okay. Bevor die Sonne untergeht, haben wir den Hang hinter uns und sind auf dem Weg nach Hause.«
Die Steigung war mit Steinen und Felsblöcken übersät. Jamie konnte die Spuren nicht sehen, die sie auf dem Herweg hinterlassen hatten; der Staubsturm hatte sogar die tiefen Furchen zugedeckt, wo der Rover kurzzeitig im weichen Sand steckengeblieben war.
»Kommen Sie nicht wieder in dieses lockere Zeug rein«, sagte Connors.
»Nicht, wenn ich’s vermeiden kann.«
»Fahren Sie ein bißchen langsamer, aber halten Sie nicht an.«
»Ja.«
Jamie wußte, daß er das Lenkrad am liebsten selbst übernommen hätte. Aber Connors blieb auf dem Beifahrersitz hocken. Ein Fahrerwechsel in dieser Situation hätte bedeutet, daß sie anhalten mußten, und keiner von ihnen hatte die Absicht, auf dem körnigen Kiesboden dieser alten Geröllawine zum Stehen zu kommen.
»Das machen Sie prima«, murmelte Connors. »Achten Sie auf die Senke da zu Ihrer Rechten.«
Jamie fuhr um den Rand der Vertiefung herum, die für ihn wie ein alter, teilweise mit Sand gefüllter Krater aussah. Er umrundete ihre Flanke und manövrierte an einem Felsblock vorbei, der fast so groß war wie der Rover selbst.
»Gut. Gut«, sagte Connors leise. »Nicht stehenbleiben.«
Alles lief wie in Zeitlupe ab. Der Rover kam auf dem Hang stetig voran. Jamie fühlte die körnige, holprige Struktur der Oberfläche unter den Rädern, die durch die Lenksäule in seine Hände übertragen wurde. Er schwitzte stark. Der Schweiß stach ihm in die Augen, Connors’ Anweisungen klangen ihm in den Ohren, sein Hals war steif vor Anspannung, und seine Arme schmerzten von der Anstrengung, das schwerfällige Fahrzeug zu steuern.
Jamie merkte, wie dessen Nase nach unten tauchte, als wollte es einen steilen Hang hinunterfahren. Er stieg automatisch auf die Bremse, aber der große, stumpfnasige Rover pflügte in einen See aus feinem, lockerem Sand und warf eine rostrote Bugwelle auf, der die Kanzel bedeckte.
»Vorsicht!« brüllte Connors zu spät.
So unerbittlich wie das Schicksal grub sich der Rover mit dem Zeitlupenhorror eines Alptraums wie ein Maulwurf in den lockeren Sand. Jamie spürte, wie die Räder nutzlos rotierten und sie tiefer in die mit Sand gefüllte Grube trieben.
»Stop! Halten Sie an!«
Jamie hatte schon ausgekuppelt, während Connors die Worte rief. Die Kanzel war dermaßen mit klebrigem rotem Staub bespritzt, daß sie kaum noch hinausschauen konnten.
Der Rover kam schlitternd zum Stehen. Jamie pochte das Herz so laut in der Brust, daß es ihm in den Ohren dröhnte. Er schaute zu Connors hinüber, der mit offenem Mund nach draußen starrte und nach Luft schnappte.
»Ich glaube, das hintere Modul steckt noch nicht drin«, sagte Jamie. »Ich versuche mal, dessen Räder in den Rückwärtsgang zu schalten.«
»Ja. Vielleicht kann es uns rausziehen.«
Der Generator heulte, und sie hörten das leise Kreischen durchdrehender Räder. Jamie schaltete sie ab, bevor die Lager sich überhitzten.
»Wir sitzen fest«, sagte er.
Connors’ blutunterlaufene Augen waren vor Angst geweitet. »Ja. Sieht so aus.«
SOL 38
SONNENUNTERGANG
Wosnesenski sollte als letzter untersucht werden.
Der Russe war nicht in der Stimmung, sich von einem Weißkittel Löcher in die Haut bohren zu lassen. Connors hatte gerade gemeldet, daß der Rover mitten auf dem Hang steckengeblieben war. Man würde einen Rettungstrupp hinschicken müssen. Aber wie? Und wen? Dr. Li weigerte sich, irgendeine Aktion zu genehmigen, bevor er nicht Rücksprache mit dem Kontrollzentrum in Kaliningrad gehalten hatte. Mittlerweile brach die Nacht herein, und die vier Leute im Rover waren sterbenskrank.
Nicht daß es den Leuten in der Kuppel viel besser gegangen wäre. Toshima war auf einmal an seinem Arbeitsplatz zusammengebrochen; sie hatten ihn zu seiner Liege tragen müssen. Patel, Naguib, sogar Abell und Mironow brachten auch kaum noch etwas zustande, sondern hingen nur kraftlos herum. Monique Bonnet, die während der letzten beiden Tage noch die muntere, mütterliche Krankenschwester gewesen war, schleppte sich mühsam herum; ihre Augen lagen vor Erschöpfung tief in den Höhlen.
»Und wie fühlen Sie sich im allgemeinen?« fragte Dr. Yang, als Wosnesenski auf dem kleinen weißen Hocker im Krankenrevier Platz nahm.
Der Russe sah sie finster an. »Ich habe wichtige Arbeit zu tun«, sagte er. »Wir stecken in einer Krise …«
Yang war nicht viel größer als Wosnesenski, obwohl er saß und sie stand. Aber sie brachte ihn abrupt zum Schweigen, indem sie ihre Mandelaugen einmal kurz und energisch schloß.
»Sie werden überhaupt nichts gegen Ihre Krise unternehmen können, wenn sich Ihr Gesundheitszustand und der Ihrer Leute weiterhin verschlechtert.« Sie hob die Stimme nicht, aber in ihren Worten war kalter Stahl. »Jetzt beantworten Sie bitte meine Fragen und tun Sie, was ich Ihnen sage.«
Wosnesenski warf einen Blick zu Reed, der an der Patientenliege in der Ecke des winzigen Krankenreviers lehnte. Reed schien es gesundheitlich gut zu gehen; sein Gesicht war rosa. Aber wenigstens war sein verdammtes überhebliches Lächeln verschwunden. Er schaute finster drein, und seine Miene war verwirrt und frustriert.
»Je eher Sie kooperieren, desto eher sind wir fertig«, sagte Yang.
Wosnesenski kapitulierte. »Was soll ich tun?«
»Krempeln Sie Ihren linken Ärmel hoch und sagen Sie mir, wie Sie sich fühlen. Und zwar möglichst präzise.«
Der Russe holte tief Luft, während er die Manschette seines Overallärmels aufknöpfte. »Ich bin schwach, mir tun die Beine weh, ich habe keinen Appetit.«
»Haben Sie diese Symptome schon einmal an sich bemerkt?« Yang hielt eine Spritze in einer Hand; die Nadel glitzerte im Licht der Deckenlampen.
»Nicht daß ich wüßte.«
»Müssen Sie husten oder niesen? Haben Sie Schmerzen in der Brust?«
Wosnesenski schüttelte den Kopf und zuckte dann zusammen. Yang fand beim ersten Versuch eine Vene; die Nadel ging glatt hinein.
»Haben Sie irgendeinen Ausschlag?« fragte sie.
Wosnesenski sah zu, wie sich der Kolben mit dunklem Blut füllte. »Nein. Ist mir nicht aufgefallen.«
Yang zog die Nadel heraus und klatschte ein Plastikpflaster auf den Einstich. Reed sah stumm zu, die Arme vor der Brust verschränkt. Die kleine chinesische Ärztin bat Wosnesenski, sich bis zur Taille auszuziehen. Wortlos schlüpfte der Russe aus dem Oberteil seines Overalls und zog sich das Unterhemd über den Kopf.
Yang sah sich seinen Rücken an. »Kein Ausschlag«, murmelte sie.
»Ist das wichtig?« fragte Wosnesenski.
»Vielleicht.« Sie schaute durch den kleinen Raum zu Reed hinüber, dann sagte sie mit leiser Stimme geistesabwesend zu Wosnesenski: »Sie können jetzt gehen.«
»Danke.« Der Russe zog sich das Oberteil seines Overalls wieder an und schlurfte aus dem Krankenrevier. Sein Unterhemd nahm er mit.
Jamie betastete den Bärenfetisch durch die Handschuhe des Raumanzugs. So dünn und flexibel die Handschuhe auch waren, sie raubten ihm die Möglichkeit, die polierte Wärme des Steins richtig zu spüren.
Er stand auf dem Dach des Labormoduls in den letzten, schräg einfallenden Strahlen der untergehenden Sonne. Er und Connors hatten es kaum noch geschafft, die Luke der Luftschleuse aufzudrücken; dann war der Astronaut auf dem Boden der Luftschleuse zusammengesackt. Er hatte vor Schwäche nicht mehr weitergekonnt. Jamie hatte ihn dort in einem Haufen hereingewehtem, lockerem Staub sitzen lassen und war die in die Seitenwand des Rovers eingelassene Leiter hinaufgestiegen, um sich einen Überblick über ihre Lage zu verschaffen.