Er hatte es nicht gewagt, auf den Sand selbst hinauszutreten, weil er Angst hatte, so tief in den pulvrigen Staub einzusinken, daß er sich nicht mehr mit eigener Kraft daraus befreien konnte.
Darüber steht nichts im Buch mit den Missionsvorschriften, hatte Jamie sich gesagt, während er langsam und vorsichtig die Leiter hinaufkletterte. Er war dabei wie ein Bergsteiger vorgegangen, das hieß, er achtete darauf, daß er immer an drei Punkten festen Halt hatte. Eine behandschuhte Hand zur nächsten Sprosse heben. Sie packen, dann die andere Hand heben. Zupacken, dann einen gestiefelten Fuß. Sich vergewissern, daß er fest auf der Sprosse steht, dann den anderen nachziehen. Der Staub machte ihm Angst. Er stellte sich vor, wie er darin versank, als wäre es Treibsand.
Nun stand er endlich auf dem Dach. Wenn du auch nur die geringste Macht hast, uns zu helfen, sagte er stumm zu dem Fetisch, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, sie einzusetzen.
»Wie sieht’s aus?« kam Connors’ Stimme aus seinen Helmlautsprechern.
»Nicht gut«, erwiderte Jamie und ließ den Blick über die Szenerie schweifen. »Der Rover steckt bis über die Kotflügel drin, nur die letzte Hälfte des hinteren Moduls ist im Freien. Nicht genug Bodenhaftung, um uns rauszuziehen.«
Connors sagte nichts, aber Jamie hörte seinen schweren Atem.
»Wie geht es Ihnen?« fragte er.
»Gut. Ich komme nur nicht auf die Beine, das ist im Augenblick alles.«
Jamie war so schwindlig, daß sich alles um ihn drehte. Er hatte Schmerzen am ganzen Körper und war derart müde, daß er versucht war, sich einfach dort draußen hinzulegen und einzuschlafen. Der Canyon war so breit, daß er tatsächlich den Sonnenuntergang miterlebte; die Felswände auf der anderen Seite waren zu weit entfernt, als daß man sie hätte sehen können, so hoch sie auch waren. Er betrachtete die Sonne, sah, wie sie den felsigen Horizont berührte, und spürte, wie sich der Schatten der tödlichen, eisigen Nacht nach ihm ausstreckte. Er erschauerte im Innern seines Anzugs, fast wie ein Hund, der Wasser abzuschütteln versucht.
Im schwindenden Licht schaute er auf den winzigen steinernen Bären hinunter. Das Lederband, das die winzige Pfeilspitze und die Feder hielt, war von seinem Großvater liebevoll drum herum gewickelt worden. Eine Adlerfeder, sagte sich Jamie. Ein Symbol der Kraft. Die könnte ich jetzt wirklich brauchen.
In sein Helmmikrofon sagte er: »Ich glaube, ich komme jetzt runter. Hier oben kann ich nichts tun, und die Sonne geht unter.«
Jamie steckte den winzigen steinernen Bären wieder in die Tasche am rechten Bein seines Anzugs und machte sich an den Abstieg. Als er sich mühsam wieder in die Luftschleuse zurückgeschleppt hatte, war es dunkel draußen. Connors saß in dem aufgehäuften Sand. Sein weißer Anzug war über und über von rotem Staub überzogen.
Jamie bemühte sich, seiner Stimme einen munteren Klang zu verleihen. »Sie sehen wie ein Schneemann aus, den man mit Rost beschmiert hat.«
»Ich fühle mich auch wie ein verdammter Schneemann — im Juli«, knurrte Connors.
Mühsam wie zwei arthritische alte Männer schaufelten sie den größten Teil des Sandes nach draußen und schlossen dann die Außenluke.
»Wir müssen jetzt noch die Anzüge saubermachen«, murmelte Connors.
»Zuerst müssen wir Sie mal auf die Beine bringen«, erwiderte Jamie.
Es kam ihm so vor, als würde er stundenlang an ihm ziehen und schieben, aber schließlich stand Connors wieder, und sie saugten routinemäßig den Staub von ihren Anzügen. Die Anzüge hatten jedoch immer noch rostrote Flecken, als sie sich schließlich aus ihnen herausschälten. In der Luftschleuse roch es so stark nach Ozon, daß Jamies Augen brannten und tränten.
Schließlich taumelten sie durch die Innenluke und ließen sich auf die Bänke in der Mitte fallen. Die beiden Frauen waren vorn im Cockpit. Joanna hatte sich einen Kopfhörer über den Kopf gezogen.
»Wosnesenski will mit euch sprechen«, rief sie mit heiserer Stimme zu ihnen nach hinten.
Ilona sagte leise: »Das Russenschwein will seine wichtigen Botschaften keiner Frau anvertrauen.«
Jamie merkte, wie er die Beherrschung verlor. »Herrgott noch mal, Ilona, hör auf mit dem russenfeindlichen Mist! Unsere Lage ist auch ohne deinen Blödsinn schon schlimm genug!«
Sie lächelte ihn träge an. »Was macht es schon aus? Wir werden hier sowieso alle sterben, ganz gleich, was ich sage, oder?«
Joanna packte sie am Arm. »Nein! Wir werden nicht sterben! Jamie läßt uns nicht sterben.«
Er schaute in ihre Gesichter, während er sich mühsam zu ihnen ins Cockpit zog. Die Krankheit hatte sie verändert. Ilona war nicht mehr die hochmütige, herrische Schönheit, die sich über alle Vorschriften hinwegsetzte. Ihre Wangen waren eingesunken, und sie hatte dunkle Ringe um die Augen. Aus ihrer Miene sprach Panik; der Geruch des Todes ging von ihr aus. Joannas Augen brannten, loderten. Sie wirkte immer noch wie ein ungepflegtes kleines Straßenkind, aber jetzt war etwas in ihren Augen, das Jamie noch nie zuvor darin gesehen hatte: eine Kraft, eine Ausdauer, die ihm bisher nicht an ihr aufgefallen waren. Vielleicht hatte Joanna selbst nicht gewußt, daß sie darüber verfügte. Sie richtete die Augen auf Jamie und sah ihn eindringlich und fordernd zugleich an.
»Nein, ich lasse uns nicht sterben«, flüsterte Jamie. Jedenfalls nicht kampflos, fügte er stumm hinzu.
Ein wachsendes Gefühl der Hilflosigkeit begann Dr. Li zu überwältigen.
»Kaliningrad besteht darauf, daß ein Rettungsflug nicht in Frage kommt«, sagte er.
Der Expeditionskommandant wollte aufstehen und hin und her gehen, wollte die nervöse Energie abarbeiten, die in ihm brodelte. Aber in dem engen, niedrigen Kommandomodul mußte er sich damit begnügen, in einem der schmalen, gepolsterten Sitze zu hocken, wo seine Knie auf lächerliche Weise in die Höhe ragten, und beim Reden immer wieder die Hände zu Fäuste zu ballen.
»Aber sie stecken da unten fest!« sagte Burt Klein.
Li schüttelte den Kopf. »Kaliningrad sagt, der letzte Lander darf nur im aller äußersten Notfall benutzt werden.«
»Und die Tatsache, daß vier unserer Leute in Todesgefahr schweben, ist kein äußerster Notfall?« fragte Leonid Tolbukhin aufgebracht.
Der Kosmonaut und der Astronaut hatten sich sofort freiwillig erboten, mit dem letzten verbliebenen Landefahrzeug der Expedition zum Canyon zu fliegen und die vier im Rover Gestrandeten zu retten.
»Wir könnten fünfzig Meter vom Rover entfernt landen«, sagte Klein zuversichtlich, »und sie dann direkt hierher bringen. Ist überhaupt nichts dabei.«
»Ein Kinderspiel«, bestätigte Tolbukhin. Seine tiefe russische Stimme verlieh der Redwendung einen seltsamen, bedächtigen Klang.
»Kaliningrad sagt nein. Ihr beiden seid die einzigen Piloten, die wir hier oben in der Umlaufbahn noch haben.«
»Holen Sie Iwschenko und Zieman zurück«, schlug Tolbukhin vor. »Dann können Burt und ich zum Canyon fliegen.«
»Klar!« sagte Klein. »Dann haben Sie immer noch zwei L/AVs und vier Piloten in der Kuppel. Das reicht allemal, um die anderen wieder herzubringen, wenn es soweit ist.«
Lis Gesicht war ein Bild des Elends. »Iwschenko und Zieman können nicht ohne Yang hierher zurückkommen. Wir können nicht beide Ärzte in der Kuppel lassen. Was würde es nützen, die Leute vom Exkursionsteam heraufzuholen, wenn es hier keinen Arzt gibt, der sie behandeln kann?«
Tolbukhin nickte widerstrebend.
»Da ist noch etwas«, erklärte ihnen Li. »Der medizinische Stab in Kaliningrad hat die Frage der Quarantäne angesprochen.«
»Quarantäne?«
Li fühlte sich erbärmlich. »Da wir nicht wissen, was das Bodenteam infiziert hat, fürchten sie, daß wir hier im Orbit uns ebenfalls mit der unbekannten Krankheit anstecken könnten, wenn wir das Bodenteam heraufholen.«
»Heilige Scheiße«, sagte Klein leise. »Sie wollen, daß wir sie da unten lassen?«
Tolbukhin erfaßte die weitergehende Implikation. »Das heißt, daß sie uns nicht zur Erde zurückkehren lassen, wenn wir die Ursache der Krankheit hier nicht finden.«
»Ja«, gab Li zu. »Wir könnten selbst in der Erdumlaufbahn unter Quarantäne gestellt werden.«
»Sofern wir lange genug leben, um so weit zu kommen«, sagte der Russe.
»Die Alternative wäre, die Leute vom Bodenteam unten zu lassen und ohne sie zur Erde zurückzukehren.«
»Das wäre ihr Tod!« fuhr Klein auf.
»Ja. Aber sie zu retten und in den Orbit heraufzuholen, könnte unser aller Tod sein.«
Eine ganze Weile sagte weder der Astronaut noch der Kosmonaut ein Wort.
Schließlich meinte Klein: »Tja, irgendwas müssen Sie tun.«
Li wußte, daß er recht hatte. Die Last der Verantwortung lag schwer auf seinen Schultern. Entweder er ließ die vier im Rover sterben, oder er setzte das Leben aller aufs Spiel — einschließlich derjenigen im Orbit —, indem er ihren letzten Piloten erlaubte, ihnen mit dem letzten Abstiegs- und Aufstiegsfahrzeug zu Hilfe zu eilen. Entweder er ließ das Bodenteam insgesamt im Stich, oder er riskierte es, daß die gesamte Expedition angesteckt wurde und alle ums Leben kamen.
Li fühlte, wie das Gewicht von zwei Dutzend Leben auf ihm lastete. Das Gewicht von zwei Welten.