Innerhalb von sechs Wochen hatte er vier Meteoriten im Eis entdeckt, von denen jedoch keiner vom Mars stammte.
Jamie arbeitete und trainierte nun seit mehr als drei Jahren mit Wissenschaftlern eines Dutzends verschiedener Nationen in Laboratorien und Exkursionszentren von Island bis Australien. Fast die ganze Zeit über hatte er — wie alle anderen auch — gewußt, daß er nicht der für die Landung auf dem Mars ausersehene Geologe sein würde. Pater Fulvio DiNardo — nicht nur ein Geologe von Weltrang, sondern auch ein jesuitischer Priester — war die erste Wahl für die Mission.
»Leute wie ihn bezeichnen wir als ›Doppler‹«, hatte einer der amerikanischen Administratoren der Mission Monate zuvor beim Frühstück vergnügt erklärt, als sie in Star City bei Moskau gewesen waren. »Er füllt zwei Positionen aus: die des Geologen und die des Kaplans.«
»Ja«, hatte Tony Reed ihm zugestimmt, wobei ein leises, süffisantes Grinsen um seine Lippen zuckte. »Er kann Beichten abnehmen und jedes Baby taufen, das während der Mission zur Welt kommt. Kein anderer Geologe könnte so nützlich sein.«
Widerstrebend akzeptierte Jamie die Realität von Di-Nardos unangreifbarer Position. Der Priester war an der wissenschaftlichen Erforschung der Planeten beteiligt, seit die zweite große Welle von Raumsonden zum Jupiter und zu den Asteroiden geschickt worden war; er hatte sogar einen Beitrag zur Entwicklung einiger Instrumente geleistet, die sie mitgeführt hatten. Er war der erste Geologe auf dem Mond seit der Apollo 17-Mission vor über dreißig Jahren gewesen. Selbst jetzt, während die Wissenschaftler für die erste bemannte Marsmission trainierten, verbrachte Pater DiNardo den größten Teil seiner Zeit im Isolationslabor oben in der russischen Raumstation Mir 5 und leitete die geologischen Untersuchungen der Gesteins- und Bodenproben, die von unbemannten, als Vorhut der menschlichen Expedition zur Erkundung des Roten Planeten ausgesandten Sonden zurückgebracht worden waren.
Es war Pater DiNardos Ersatzmann, der Jamie zu schaffen machte. Wenn man dem ganzen Klatsch glauben durfte, lief Franz Hoffmann auf der Innenbahn. Der Wiener war ursprünglich Physiker gewesen und hatte erst vor ein paar Jahren auf Geologie umgesattelt. Jamie war sicher, daß es eher seine österreichische Staatsangehörigkeit als seine Qualifikation als Geologe war, die ihn auf den zweiten Platz hinter DiNardo gebracht hatte. Und vor Jamie.
Monatelang hatte Jamie gespürt, wie eine leise köchelnde Wut in ihm aufstieg. Ich bin ein besserer Geologe als Hoffmann, sagte er sich. Aber ihn werden sie zum Mars schicken, wenn DiNardo ausfällt, und ich werde hier auf der Erde bleiben. Weil die Politiker eine ausgewogene Mischung von Nationalitäten haben wollen und es keinen weiteren Österreicher in der Gruppe gibt. Noch schlimmer: Die Politiker tun alles, was in ihrer Macht steht, damit die Zahl der Amerikaner und Russen gleich bleibt. Und mich zählen sie als Amerikaner.
Als er sich Dr. Lis Tür näherte, fragte er sich zum tausendsten Mal, was er tun konnte, um die Situation zu ändern. Warum hat er mich zu sich gerufen? Wird Li jetzt, wo er offiziell zum Kommandanten der Expedition ernannt worden ist, als Wissenschaftler oder als Politiker handeln? Kann er mir helfen? Wird er mir helfen, wenn er kann?
Jamie klopfte an Dr. Lis Tür.
Die Besetzung der Position des Expeditionskommandanten war von den Politikern und Administratoren mit äußerster Sorgfalt vorgenommen worden. Es mußte ein hochgeachteter Wissenschaftler sein, ein natürlicher Führer, ein Mensch, der die Männer und Frauen, die er auf einer anderen Welt befehligen würde, inspirieren konnte. Er mußte imstande sein, verletzte Egos zu beschwichtigen und emotionale Probleme unter seinen sensiblen Wissenschaftlern und Astronauten zu lösen.
Vor allem mußte er aus einem neutralen Staat stammen: Er durfte weder aus dem Osten noch aus dem Westen sein, weder Araber noch Jude, weder Hindu noch Moslem.
Dr. Li Chengdu war ein asketisch schlanker Mann mit bleichem Gesicht, der in Singapur als Sohn einer chinesischen Kaufmannsfamilie zur Welt gekommen war, seine Ausbildung in Shanghai und Genf erhalten hatte und, wie man munkelte, für seine Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Physik der Erdatmosphäre für einen Nobelpreis im Gespräch war: Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, den Abbau der Ozonschicht rückgängig zu machen und das lange Zeit gefürchtete Ozonloch in der oberen Atmosphäre zu schließen. Mit Anfang fünfzig war er jung und rüstig genug für die lange Reise zum Mars, aber auch alt und angesehen genug, sowohl nominell als auch faktisch der unangefochtene Führer der Expedition zu sein.
»Bitte kommen Sie herein«, ertönte Dr. Lis Stimme, nur ganz leicht gedämpft von der dünnen Hartfaserplattentür.
Jamie betrat den Raum, der Li als Büro und Unterkunft diente. Li stand hinter dem Schreibtisch auf, der mit dem Schuhanzieher zwischen das Etagenbett und die gekrümmte Außenwand gequetscht worden war. Er war so groß, daß er sich ziemlich bücken mußte, um sich den Kopf nicht an den gebogenen Deckenpaneelen zu stoßen.
Der Raum hatte überhaupt keine persönliche Note; er war in keiner Weise von der Anwesenheit eines Individuums geprägt. Li war erst vor ein paar Tagen gekommen und sollte mit Jamies Gruppe am nächsten Morgen wieder abfliegen. Der Schreibtisch war leer, bis auf einen leise summenden Laptop-Computer, dessen Bildschirm in blassem Orange glomm. Das Bett war mit militärischer Präzision gemacht, die Decken waren sorgfältig unter die dünne Matratze gezogen. Das einzige Fenster wurde von dem weggepflügten Schnee versperrt, der an der Gebäudewand aufgehäuft war. Schmale, lange Neonlampen liefen an der niedrigen Decke entlang und gaben Lis blasser Haut einen beinahe gespenstischen Schimmer.
Als Jamie Dr. Li vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte ihn die Größe des Mannes verblüfft. Jetzt war er erneut überrascht. Li war beinahe zwei Meter groß und so hager, daß er fast schon ausgemergelt wirkte, eine riesige Vogelscheuche mit hohlen Wangen und langen, dünnen Fingern. Der frisch ernannte Expeditionskommandant trug ein weiches, kohlschwarzes Velourshemd, das lose um seinen dünnen Körper hing.
»Ah, Doktor Waterman. Bitte setzen Sie sich.« Li wies auf den einzigen anderen Stuhl im Raum, ein vom Staat gestelltes Möbelstück aus abgenutztem, mattgrauem Stahl mit einem dünnen Plastikkissen, das sich eisenhart anfühlte.
Li nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Er schwieg einen langen Moment und sah Jamie aufmerksam an, als wollte er in ihn hineinschauen. Jamie erwiderte den Blick gelassen. Er hatte oft genug zugesehen, wie sein Großvater sich mit anderen Navajos unterhielt; sie hatten es nie eilig damit, etwas zu sagen. Es war wichtig, sich Zeit zu lassen, um nachzudenken, zu überlegen und den anderen einzuschätzen.
Jamie musterte Lis Gesicht. Sein Haar waren immer noch dunkel, doch es war an seiner hohen, gewölbten Stirn schon merklich zurückwichen. Unverkennbar orientalische Augen, verhangen, unergründlich; zusammen mit dem herabhängenden Schurrbart verliehen sie ihm das Aussehen eines uralten chinesischen Weisen oder vielleicht auch des Schurken in einem altmodischen Abenteuerkrimi. Er hätte ein langes Seidengewand tragen und in einem Palast in Beijing leben sollen, statt im Schnee am Arsch der Welt festzusitzen.