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»Ja. Richtig.« Er konnte es immer noch nicht fassen, daß Wosnesenski Befehle verweigert hatte. Ausgerechnet Wosnesenski, der Gewissenhafteste der Gewissenhaften!

»Wenn Iwschenko bei euch wäre, könnte man die ganze Besatzung in zwei Fahrzeugen heraufholen«, konstatierte Li Dinge, die ihnen beiden längst klar waren. »Aber da er mit Wosnesenski unterwegs ist, kann ich nicht den Befehl geben, die Kuppel zu evakuieren.«

»Ja, Sir. Ich verstehe«, sagte Zieman.

»Das heißt, Sie haben die Aufsicht über die Besatzung in der Kuppel, bis Wosnesenski zurückkommt.«

Zieman nickte wortlos und dachte: Wenn er zurückkommt. Wenn.

SOL 40

MORGEN

Genau wie er es erwartet — nein, gewußt — hatte, war eine Treppe in die steile Felswand gehauen, die zu der Stadt hoch oben in der riesigen Spalte führte.

Jamie stand im hellen, warmen Sonnenschein von New Mexico, obwohl der Himmel von einem zarten marsianischen Rosa war. Er schob das Visier seines Helms hoch, weil er wußte, daß er den Schutz seines Anzugs nicht mehr brauchte. Er kehrte heim, in seine wahre Heimat, wo sich zwei Welten begegneten und zu der Einheit und dem Gleichgewicht verschmolzen, die er unbewußt seit seiner Kindheit gesucht hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Jamie das Gefühl, im Einklang mit der Welt zu sein, mit seinen beiden Welten, mit allen Welten.

Er stieg die Stufen langsam hinauf. Es widerstrebte ihm beinahe, dem Glück und dem Frieden dieses Augenblicks ein Ende zu machen. Doch er wußte, daß oben die Angehörigen seines Volkes warteten, um ihn willkommen zu heißen. Wie ein bejahrter Priester der Alten feierlich und würdevoll die Tempelstufen erklomm, setzte Jamie seine gestiefelten Füße von einer Steinstufe auf die nächste. Er sah, daß die Stufen vor langer, langer Zeit in den lebenden Fels gehauen worden waren; ihre steinernen Trittflächen waren von zahllosen Generationen von Füßen geglättet und ausgetreten.

Der schützende Anzug löste sich Stück für Stück in Luft auf, während er emporstieg. Sein Helm verschwand als erstes, und er konnte die saubere, kühle Luft der wahren Welt in sich hineintrinken. Dann verschwanden seine Stiefel, das Rumpfstück, die Beine. Als er oben ankam, war er nackt und besaß nichts als den Bärenfetisch, den sein Großvater ihm vor Hunderten Millionen Kilometern gegeben hatte.

Schweiß rann ihm die Seiten und die Beine hinunter, lief ihm übers Gesicht. Die Luft war kühl, aber die Sonne wärmte ihn, erfüllte ihn mit ihrer lebensspendenden Energie.

Er näherte sich dem oberen Ende der Treppe. Er hörte das Seufzen der Brise, hörte, wie in vollem Blätterschmuck stehende Bäume dort oben ihn riefen. Er blickte auf den Fetisch in seiner Hand hinab, und der Bär lächelte ihm zu. Nur noch ein paar Schritte, mein Sohn, sagte die Stimme seines Großvaters. Nur noch ein paar Schritte.

Jamie kam oben an. Die Stadt war da; er hatte es gewußt. Sie war prachtvoll. Senkrechte, saubere Wände aus neuen Adobeziegeln. Schicht um Schicht stiegen die Häuser zum höchsten Punkt der Spalte an, wo der überhängende Felsen sie wie der schützende Arm Gottes behütete.

»Es ist gut«, sagte Jamie. »Ya’aa’tey.«

Sein Großvater erschien vor ihm, jung und stark und nackt wie Jamie selbst. »Es ist gut«, sagte sein Großvater.

Alle Menschen strömten aus ihren Häusern und drängten sich auf den zentralen Platz, wo Jamie mit seinem Großvater stand. Sie lächelten, sangen und hatten Blumenkränze dabei, die sie Jamie um den Hals legten. Die Frauen waren schön, die Männer stark und gutaussehend.

Doch Jamie wandte sich an seinen Großvater. »Ich kann nicht bleiben. Die anderen — sie brauchen mich.«

»Ich weiß«, sagte der alte Mann. »Geh in Schönheit, mein Enkelsohn.«

Jamie schlug abrupt die Augen auf.

Der Traum war so lebhaft, so real gewesen. Er grub die Hände in die Taschen seines Overalls und tastete nach dem Fetisch darin, einem warmen, tröstenden Steinklumpen. Erst dann entspannte er sich in seiner Koje und machte sich für den neuen Tag bereit.

Ein dumpfer, verdrossener Schmerz, der ihm alle Kraft raubte, durchzog seinen ganzen Körper. Sein Schädel brummte, sein Pulsschlag pochte ihm in den Ohren wie eine Trommel, die langsam den Rhythmus des Todes schlug. Neben ihm stöhnte Connors leise in seinem unruhigen Schlaf; sein Atem pfiff ein wenig.

Leise schlüpfte Jamie aus seiner Koje. Seine Beine waren fast zu schwach, um ihn zu tragen. Eine ganze Weile hielt er sich am Rand von Joannas Koje fest und wußte nicht, ob er es schaffen würde, sich zwischen den Liegen durchzuzwängen und zum Waschraum zu gehen. Joanna hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt. Ilona lag mit dem Gesicht nach unten und rührte sich nicht. Einen Moment lang befürchtete Jamie, sie könnte tot sein, aber dann sah er den langsamen Rhythmus ihres Atems.

Er schob sich zwischen den Kojen hindurch und hielt sich auf dem Weg zum Waschraum an den Griffen fest, die in die Schotts eingelassen waren. Aus dem polierten Metallspiegel über dem winzigen Waschbecken starrte ihm sein Gesicht entgegen — ausgezehrt, unrasiert, hohläugig. Mit der übertriebenen Sorgfalt eines Betrunkenen oder eines sehr alten Mannes wusch Jamie sich langsam das Gesicht und die Hände. Als er sich die Zähne putzte, war die Zahnbürste hinterher blutig. Er hatte das Gefühl, daß die Zähne nur noch lose im Zahnfleisch steckten. Er zog den Nachtoverall aus und schlüpfte in den Tagesoverall. Sie unterschieden sich nicht mehr sonderlich voneinander, stellte er fest. Beide waren zerknittert und stanken.

Die anderen erwachten erst, als er sich ein Glas Orangensaft aus Konzentrat gemixt und einen Becher dampfenden Kaffee gemacht hatte. Sie standen langsam auf und sahen ebenso erschöpft und von Schmerzen gebeutelt aus, wie Jamie sich fühlte. Hohlwangige Gesichter, rote Augen, zitternde Hände, Beine, die sie fast nicht mehr trugen.

Sie sprachen kaum ein Dutzend Worte miteinander. Gemurmel. Grunzlaute. Seufzer, die in keuchendes, mühsames Atmen übergingen.

Jamie schlüpfte mit dem Kaffeebecher in der Hand an ihnen vorbei und zwang sich, ins Cockpit zu gehen. Er ließ sich auf den rechten Sitz fallen, schaltete die Kommunikationsanlage ein und rief die Kuppel.

Paul Abells Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Er lächelte — matt, aber immerhin. Seine Wangen und sein Kinn sahen frisch rasiert aus und waren ein bißchen gerötet. Seine vorquellenden Augen waren klarer, als Jamie sie in Erinnerung hatte.

»Guten Morgen!« Abell war beinahe fröhlich.

»Wie geht es Ihnen?« Jamies Stimme war ein schnarrendes Krächzen.

»Yangs Vitamindosen scheinen zu helfen«, sagte Abell munter. »Ich habe mich mal ordentlich ausgeschlafen. Hab mich schon seit Tagen nicht mehr so gut gefühlt wie heute morgen. Noch nicht wieder hundertprozentig, aber schon besser.«

»Das ist gut.«

Abell vermied es, Jamie zu fragen, wie es ihm ging. Er konnte es sehen. »Schon was von den Russkis gehört?«

»Von wem?«

»Mikhail und Iwschenko. Sie müßten mittlerweile fast am Rand des Canyons sein.«

»Nein. Noch kein Kontakt bisher.«

»Heute vormittag, bestimmt«, sagte Abell. »Heute vormittag«, erwiderte Jamie.

* * *

»Vorsichtig jetzt«, sagte Wosnesenski leise. »Der Horizont ist so nah, daß man sich leicht verschätzt.«

Iwschenko, der den Rover fuhr, warf ihm einen finsteren Blick zu. »Mikhail Andrejewitsch, ich habe genauso viele Stunden in den Simulatoren und auf Übungsfahrten verbracht wie du, oder nicht? Ich habe dieses Biest fast die ganze Nacht hindurch gefahren, oder nicht? Warum sagst du mir andauernd, daß …«