»Seid mir gegrüßt, meine Reisegefährten!« kam Wosnesenskis Stimme rauh und krächzend aus dem Lautsprecher an der Kontrolltafel. Für die vier klang sie wie süßer Engelsgesang.
Jamie schaute auf den Kommunikationsbildschirm hinunter. Der Kosmonaut wirkte schwach und angespannt. Er saß schwitzend an den Steuerelementen des zweiten Rovers und fuhr unerträglich bedächtig, geduldig und vorsichtig den Hang der alten Rutschung hinunter. Tony Reed stand geduckt hinter ihm. Sein Gesicht war verhärmt, bleich und nervös. Beide Männer trugen Overalls.
Jamie setzte das Fernglas wieder an die Augen und sah eine Gestalt in einem leuchtend roten Schutzanzug, die vor dem Rover her auf sie zustapfte. Sie prüfte den Boden mit einer langen Stange, wie ein Blinder sich durch unbekanntes Gelände tastet, wie ein Bergsteiger sich seinen Weg über eine schneegefüllte Spalte sucht.
Iwschenko war durch eine Leine am Handgelenk mit der Nase des Rovers verbunden, der in einem Abstand von mehr als zwanzig Metern hinter ihm herfuhr. Das Fahrzeug bewegte sich zentimeterweise vorwärts, kam jedoch unablässig näher. Man kann sich darauf verlassen, daß Mikhail alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen trifft, dachte Jamie. Glaubt er, Iwschenko könnte wegschwimmen? Einen absurden Moment lang sah es so aus, als würde der Kosmonaut den schwerfälligen Rover ziehen.
»Sie kommen«, sagte Ilona in einem erstickten Flüsterton. »Sie kommen, um uns zu retten.«
»Ein dreifaches Hoch auf unsere Mannschaft«, sagte Connors schwach.
Jamie blieb im Cockpit und sah zu, wie ihre Retter näherkamen. Über eine Stunde verging, während der Rover quälend langsam auf sie zusteuerte und Iwschenko vor ihm den Boden prüfte. Ein Blinder, der einen Elefanten führt, dachte Jamie.
»Vorsichtig jetzt«, sagte er zu den Kosmonauten. »Seht ihr, wo der Boden in eine Reihe kleiner Sandwellen übergeht?«
Wosnesenskis Bild auf dem Monitor nickte, Iwschenko sagte in seinem Helm: »Ja, ungefähr fünfzig Meter vor mir.«
»Dort ist der Rand des Kraters, da bin ich ziemlich sicher«, sagte Jamie. »Er ist mit sehr lockerem Sand gefüllt; eigentlich ist es eher Staub. Ihr müßt ihn mit dem Rover umfahren. Sonst bleibt ihr auch stecken.«
Wosnesenski beäugte den Krater mißtrauisch. »Er scheint ziemlich groß zu sein.«
»Ich weiß. Aber ihr könnt euch doch einen Weg drum herum suchen, oder?«
»Abwärts vielleicht. Aber ich frage mich, wie es ist, wenn wir wieder hinauf wollen.«
Iwschenkos Stimme sagte: »Es wäre vielleicht am besten, wenn wir mit dem Rover am Rand des lockeren Erdreichs anhielten und ich zu Fuß hinüberginge. Dann können wir eine Sicherheitsleine an ihrem Fahrzeug befestigen und sie mit der Winde zu unserem Rover herüberziehen.«
»Könnt ihr alle vier eure Anzüge anlegen?« fragte Wosnesenski.
»Ja«, sagte Jamie. »Ich glaube schon.«
»Ich habe Bedenken, ob ich das Risiko eingehen soll, mit dem zweiten Rover ebenfalls steckenzubleiben.«
»Ich verstehe. Wir steigen in die Anzüge, und ihr zieht uns mit der Winde über das weiche Zeug — wenn es euch gelingt, unsere Fahrzeuge mit einer Leine zu verbinden.«
»Sehr gut. So machen wir es.«
Dr. Li Chengdu hatte noch nie in seinem Leben derart lange gezögert, einen Bericht einzureichen. Er wußte, daß dies alles ruinieren konnte. Es wird ein schlechtes Licht auf meine Führungseigenschaften werfen; es wird die Flugleitung umhauen. Wenn die Politiker und die Medien es herausfinden, sind all unsere Chancen dahin, jemals weitere Missionen zum Mars schicken zu können.
Aber er mußte über den Skorbut und die Abfolge von Ereignissen, die zum Ausbruch der Krankheit geführt hatte, Bericht erstatten. Li blieb nichts anderes übrig, als den Männern und Frauen, die die Mission leiteten, die Tatsachen mitzuteilen. Es gibt keine Möglichkeit, die Sache zu vertuschen, erkannte Li. Und es wäre auch nicht richtig, es zu tun. Allein schon der Gedanke ist kriminell. Ganz gleich, welche Auswirkungen es auf meine Karriere oder auch auf die Karriere anderer hat.
Skorbut. Das gesamte Bodenteam beinahe an Skorbut gestorben, weil sie übersehen hatten, daß reiner Sauerstoff ihren lebenswichtigen Vitamin-C-Vorrat deaktiviert hatte. Die Politiker werden zu dem vorschnellen Schluß kommen, das Exkursionsteam sei in seinem Rover steckengeblieben, weil der Skorbut ihnen die Kraft und die Urteilsfähigkeit geraubt habe. Und jetzt mißachtet ausgerechnet Wosnesenski Befehle und versucht, sie zu retten.
Wosnesenski. Wenn die Missionsoberen sich erst einmal daran festbeißen! Was für ein Schlamassel. Was für ein verfluchtes, verwickeltes Desaster.
Li wußte, daß er Kaliningrad die Fakten mitteilen mußte. Trotzdem zögerte er. Er marschierte in seiner Privatkabine hin und her, drei lange Schritte in die eine, dann in die andere Richtung, immer wieder, ging ein dutzendmal an dem Computer auf seinem Schreibtisch vorbei, ohne auch nur daran zu denken, mit der Abfassung seines Berichts zu beginnen.
Selbst wenn ich die Tatsachen verheimlichen wollte, wäre das unmöglich. Sie werden bald genug erfahren, daß wir die Kuppel nicht wie befohlen evakuieren. Er zermarterte sich stundenlang den Kopf. Wie mache ich die beste Miene zu dieser Katastrophe? Wie bringe ich ihnen die Nachricht bei, ohne jede Chance auf künftige Missionen zum Mars zunichte zu machen? Wie gebe ich meine Unzulänglichkeit zu, ohne meine Zukunftsaussichten zu ruinieren?
Darauf kommt es an. Wie kann man diese schreckliche Nachricht so vermitteln, daß unsere Zukunftschancen nicht zunichte gemacht werden. Das ist der springende Punkt.
Praktisch alle Berichte des Bodenteams wurden mündlich erstattet und von den Computern im Raumschiff und in Kaliningrad automatisch transkribiert. Li war der einzige, der seine Berichte regelmäßig schriftlich verfaßte und in Schriftform abschickte. Aber was kann ich jetzt schreiben? Welche Worte können diese Nachricht abschwächen?
Wie ein Affe im Käfig marschierte er auf und ab, suchte nach einer Möglichkeit und fand keine. Schließlich setzte er sich äußerst widerwillig an seinen kleinen Schreibtisch und begann, mit seinen langen, manikürten Fingern auf die Computertastatur einzuhämmern.
Dimitri Josifowitsch Iwschenko hatte das Aussehen und die Persönlichkeit eines typischen Kosmonauten. Kleiner Wuchs, blitzschnelle Reflexe und so jung, daß er als Kampf- und dann Testpilot noch nicht zu Tode gekommen war. Er hatte ganze Nächte durchgesoffen, sich am nächsten Morgen an der frischen Luft ausgenüchtert, eine Zigarette zum Frühstück geraucht und hinter den Hangar gekotzt, bevor er ins Cockpit irgendeines überschallschnellen Jets geklettert war. Doch sobald er im Cockpit saß, war er cool und präzise, konnte eine Situation innerhalb von Sekunden beurteilen und mit einer Mischung aus Instinkt, Training und unglaublich schnellen Denkprozessen genau im richtigen Moment das Richtige tun. Er hielt sich nicht für einen kühnen Piloten; die Kühnen starben jung. Iwschenko war ein vorsichtiger Pilot, der gefährliche Flugzeuge flog. Als er zum Kosmonauten Corps wechselte, langweilte ihn die Newtonsche Vorhersagbarkeit jeder Raumfahrtmission beinahe.
Jetzt langweilte er sich jedoch nicht. Er war allerdings auch nicht sonderlich beunruhigt. Nur vorsichtig. Kein Grund zur Eile, ermahnte er sich, als er seine Stange behutsam in die Sandwellen einen Meter vor seinen Stiefeln stieß. Wir sind hier, um diese vier armen Teufel zu retten, nicht, um neben ihnen steckenzubleiben.
Staub wirbelte an den Stellen auf, wo die Stange auf den Boden traf. Sie sank ein paar Zentimeter tief ein und schien dann auf festen Grund zu stoßen. Iwschenko nickte in seinem Helm und machte einen Schritt nach vorn. Seine Sicherheitsleine zog er hinter sich her.