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Jetzt sah Jamie grimmig zu, wie Iwschenko von Schmerzen gepeinigt zur Luftschleuse des Rovers kroch. Und er wußte, nun war alles vorbei, es gab keine Hoffnung mehr, daß sie gerettet wurden. Wenn er es nicht selber tat.

SOL 40

NACHMITTAG

Jamie brauchte fast zwei Stunden, um sich in seinen Anzug zu zwängen. Obwohl er von der Krankheit erschöpft und geschwächt war, wußte er, daß er mit einer Rettungsleine zum zweiten Rover gehen mußte, die seine drei Gefährten endlich über den Geisterkrater aus trügerischem Sand zum Rettungsfahrzeug und damit in Sicherheit bringen würde.

Wosnesenski hatte energisch widersprochen.

»Sie sind zu krank dazu!« hatte der Russe beharrt. »Ich bin der einzige, der noch übrig ist und wenigstens die Hälfte seiner normalen Kraft besitzt …«

Jamie hatte ihn mit einer erhobenen Hand zum Schweigen gebracht. »Mikhail«, sagte er leise zu dem Kosmonauten auf dem Kommunikationsbildschirm, »wenn Sie ebenfalls dort draußen steckenbleiben, sind wir alle tot. Wenn ich steckenbleibe, kann immer noch Pete oder sogar eine der Frauen versuchen, zu Ihnen zu gelangen.«

»Die sind alle in noch viel schlechterer Verfassung als Sie!«

»Sie müssen bei ihrem Fahrzeug bleiben«, sagte Jamie ausdruckslos und nüchtern, als läse er Anweisungen von einem Formblatt ab. »Das versteht sich doch wohl von selbst. Die Vorschriften sind in diesem Punkt absolut eindeutig und auch vollkommen richtig.«

Wosnesenski machte ein finsteres Gesicht. Aber er widersprach nicht länger.

»Ich bin stark genug, um den Weg um den Rand des Kraters herum zu schaffen«, sagte Jamie. »Ich nehme eine Leine mit, mit der wir die anderen über den See transportieren können.«

»Den See?«

»Den sandgefüllten Krater.«

»Das ist eher ein Sumpf als ein See«, knurrte Wosnesenski wütend.

»Was auch immer. So machen wir es«, sagte Jamie.

Wosnesenski murmelte etwas auf Russisch.

»Wie geht es Iwschenko?« fragte Jamie.

Die Miene des Kosmonauten wurde noch finsterer. »Reed kümmert sich um sein Bein. Anscheinend ist es nicht gebrochen, aber das Knie ist schlimm gezerrt. Er kann nicht laufen. Er kann nicht einmal ohne fremde Hilfe aufstehen.«

»Also muß ich es machen.«

Nach zwei Stunden schweißtreibender Arbeit setzte Jamie nun seinen Helm auf den Halsring seines Anzugs und versuchte, seine Zweifel im Zaum zu halten. Ein paar Kilometer, sagte er sich. Zwei, höchstens drei. Das schaffe ich. Aber seine Arme waren so schwer, daß er sie kaum heben konnte. Und seine Beine waren aus Gummi.

Connors hatte ihm in den Raumanzug helfen wollen, war aber so schwach, daß er nicht mehr als ein paar Minuten auf den Beinen stehen konnte. Joanna und Ilona assistierten ihm wortlos und mit zusammengebissenen Zähnen, während Connors die Punkte von der Checkliste ablas.

»Ist doch nicht schlecht«, witzelte der Astronaut, »sich von zwei prachtvollen Frauen beim Anziehen helfen zu lassen.«

Er saß auf dem Rand seiner Liege, hielt die Checkliste in der zitternden Hand und bemühte sich, das Lächeln auf seinem verschwitzten, müden Gesicht nicht erlöschen zu lassen. Durch die offene Luke der Luftschleuse sah Jamie, daß Connors Probleme beim Atmen hatte; seine Brust hob und senkte sich mühsam, sein Mund stand offen.

Den beiden Frauen ging es nicht viel besser. Sie bewegten sich langsam und kraftlos. Ihre Gesichter waren verhärmt und blaß. Jamie fragte sich, wie viele Fehler sie machten. Bringen sie mich um, weil sie so schwach sind, daß sie nicht mehr wissen, was sie tun?

Das Klettergeschirr, dessen dreibeiniger Ständer mit dem Windenmechanismus sowie die massive Kabeltrommel lagen am Schott neben der Luftschleuse. Als er die Gurte über die Schultern streifte und sie vor der Brust verschloß, dachte Jamie wehmütig: Wir werden damit nicht die Felswände erklimmen, um mein Dorf anzuschauen. Ich werde nie sehen, ob es ein echtes Dorf ist oder nicht.

Schließlich war er fertig angekleidet. Sie hatten ihm das Tornistergerät angelegt und es überprüft, und sein Geschirr konnte jederzeit mit dem Kabel verbunden werden. Alle Systeme funktionierten, sofern sie nicht etwas übersehen hatten.

»Okay«, sagte Jamie, der bereits das enorme Gewicht des Anzugs, des Tornisters und der Verantwortung spürte, das auf seinen wackligen Beinen lastete. »Raus mit euch aus der Luftschleuse.«

Joanna langte nach oben und berührte seine Wange. »Mach zuerst dein Visier zu«, sagte sie zärtlich. »Und möge Gott mit dir sein.«

Gott? dachte Jamie. Ihm fiel ein, daß sein Fetisch noch in der Tasche seines Overalls steckte. Da er jetzt in dem harten Anzug eingeschlossen war, kam er nicht mehr an die Tasche heran und konnte ihn nicht berühren. Er ist da, sagte er sich. Ich gehe nicht ohne ihn. Er ist da, wo er sein soll.

Ilona warf ihm ein mattes Lächeln zu, als sie und Joanna die Luftschleuse verließen. Jamie winkte Connors flüchtig zu und zog dann die Luke zu. Als sie verriegelt war, streckte er einen Finger aus, um auf die Taste zu drücken, die die Luft aus der Kammer pumpen würde.

Und sah, daß er seine Handschuhe noch nicht angezogen hatte.

Ihm wurde flau im Magen. Wir haben mit vier Leuten alles durchgecheckt, und die verdammten Handschuhe stecken noch im Beutel an meinem Gürtel. Was, zum Teufel, haben wir sonst noch alles falsch gemacht?

Er zog die Handschuhe an und befestigte sie an den Manschetten des Anzugs. Dann setzte er die Pumpen in Gang. Es schien nur Sekunden zu dauern, bis das Lämpchen an dem kleinen, quadratischen Kontrollfeld rot wurde. Jamie holte unbewußt tief Luft. Seine Brust fühlte sich seltsam an, so kratzig wie manchmal in der eisigen winterlichen Bergluft.

Die Außenluke ging ein paar Zentimeter auf und blieb dann stecken. Ein Rinnsal aus rotem Sand rieselte in die Schleusenkammer.

Jeder einzelne Schritt wird ein Kampf werden, erkannte Jamie. Sei bloß vorsichtig. Sei verdammt vorsichtig.

Er stieß die Luke ganz auf, indem er sich mit seinem Gewicht dagegenlehnte, um sie gegen den Sand aufzudrücken. Das pulverartige, rostfarbene Zeug strömte um seine Stiefel herum herein und wallte in federleichten Staubwolken auf, als er sich bewegte. Trotz der geringen Schwerkraft kam es ihm so vor, als würden der Ständer und die Kabeltrommel des Klettergeschirrs Tonnen wiegen. Besonders die Kabeltrommel. Sie war nicht dazu gedacht, getragen zu werden, sondern sollte über den Boden gerollt werden.

Es ist unmöglich, sie mit einer Hand zu tragen, sagte er sich. Ich werde den Weg ganz sicher ein paarmal machen müssen.

Jamie packte den zusammengeklappten, dreibeinigen Ständer und griff mit der freien Hand nach den Leitersprossen, die gleich draußen neben der Luftschleuse an der Flanke des Rovers angebracht waren. Methodisch kletterte er auf das Dach des vorderen Moduls und stellte den dreibeinigen Ständer dort auf.

»Ist alles in Ordnung, Jamie?« fragte Joannas Stimme.

»Ich bin oben auf dem Dach«, meldete er. »Ich muß mir überlegen, wie ich die verdammte Trommel hier raufkriege. Die wiegt eine Tonne.«

Er hörte undeutliches Gemurmel. Dann ertönte Connors’ Stimme, schwach, beinahe atemlos. »Hängen Sie das Kabel an den Motor der Winde … legen Sie die Sperre ein, damit es sich nicht abwickelt … dann können Sie … sie mit Motorkraft raufziehen«, sagte der Astronaut.

Jamie schnitt in seinem Helm eine Grimasse. »Ich schätze, darauf hätte ich irgendwann auch kommen sollen. Danke, Pete.«

»Gern geschehen.«

Alles schien so langsam zu gehen. Jamie verbrachte ein halbes Leben damit, die Trommel mit der Winde aufs Dach des Rovers zu hieven, dann zum Heck des Fahrzeugs zu stapfen und dort vorsichtig auf den festen Boden hinunterzusteigen. Er hantierte schwitzend und vor sich hinfluchend herum, stellte den dreibeinigen Ständer auf und schraubte ihn an den Gerätebefestigungen an, die in die Seitenwand jedes Rovermoduls eingelassen waren. Dann hängte er das Kabel erneut an den Motor der in den Ständer eingebauten Winde. Diesmal löste er die Sperre an der Kabeltrommel, so daß diese sich frei drehen konnte.