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Aber sie ist nicht tot, sagte eine Stimme in seinem Innern. Du hast hier Leben gefunden.

Jamie zwinkerte sich den Schweiß aus den Augen. Seltsam, daß ich Leben auf einer Welt gefunden habe, auf der wir alle sterben werden, dachte er. Seltsam, daß man schwitzt, während man sich zu Tode friert.

Er taumelte noch ein paar Schritte vorwärts und fiel dann auf die Knie. Seine Beine wollten ihn nicht mehr weitertragen. Seine Arme fühlten sich an, als wären sie in Eis gegossen. Weit in der Ferne konnte er die winzigen Scheinwerfer von Wosnesenskis Rover sehen. Nah genug, um sie zu sehen. Nah genug, um sie zu erreichen.

Jamie versuchte aufzustehen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Eiskalt, erfroren, taub. Er kroch auf Händen und Knien weiter, hörte die warnende Stimme seines ersten Missionsinstruktors: »Schon der kleinste Riß in Ihren Handschuhen, das winzigste Leck in einem Verschluß oder einem Gelenk wird Sie draußen auf dem Mars innerhalb von Sekunden umbringen.«

Völlig erschöpft ließ er sich der Länge nach auf den harten, felsigen Boden fallen. Mit einer letzten, gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihm, sich auf die Seite zu drehen, und er versuchte, sich in eine sitzende Position aufzurichten.

Er schaffte es nicht.

Jamie lag auf der Seite, halb von dem unförmigen Tornister und dem Geschirr gestützt, und schaute zu den kalten, erhabenen Sternen hinauf, die in der Dunkelheit funkelten. Er glaubte, Coyote dort oben zu sehen, gleich neben Orion, dem Jäger. Coyote lachte.

»Tut mir leid«, keuchte Jamie. »Ich kann nicht … weiter. Ich bin am Ende …«

»Jamie!« kreischte Joanna. »Du mußt weitergehen! Du mußt! Für mich! Für uns alle! Bitte!«

»Hab’s versucht …« Der Schmerz ließ nach. Sein ganzer Körper wurde taub, schwebte im einem Nichts, das ihn an das buddhistische Nirwana erinnerte.

Er hörte Joannas Schluchzen und das Gemurmel von Stimmen in seinem Kopfhörer.

»Hört zu …« sagte er. Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren schwach und entrückt. »Sagt ihnen … es macht nichts. Macht nichts … daß ich gestorben bin. Daß wir alle sterben. Jeder muß sterben. Nicht wichtig. Wir haben soviel gelernt … und es gibt noch soviel … herauszufinden.«

»Du darfst nicht sterben, Jamie! Du darfst nicht!«

Er hatte keine Schmerzen. Er akzeptierte alles, was mit ihm geschah, bis in sein innerstes Wesen hinein, als hätte er immer an diesem Ort sein sollen. Er erinnerte sich daran, daß ihm sein Großvater von Häuptling Seattle erzählt hatte, der vor langer Zeit gesagt hatte, nicht die Erde gehöre dem Menschen, sondern der Mensch der Erde. Wir gehören auch dem Mars, erkannte Jamie. Jetzt jedenfalls. Jetzt gehören wir auch ihm. Und der Sonne und all den Welten, all den Sternen. Deshalb wollen wir alles sehen, alles erforschen. Das ist unser Erbe. Unser Geburtsrecht. Dafür lohnt es sich zu sterben.

Ich verstehe, sagte er stumm, und staunte über die Klarheit seiner Vision. Endlich weiß ich, wer ich bin.

Das gesamte gestirnte Universum starrte auf die kleine, zerbrechliche Gestalt eines Menschen herab, der hilflos und allein auf dem eisigen, windgepeitschten Hang einer alten Geröllawine auf dem Mars lag.

Aus weiter, weiter Ferne hörte er Stimmen, aber sie bedeuteten ihm nichts. Sie verklangen und wichen dem Schweigen der Ewigkeit.

Er verstand jetzt, daß der Menschenmacher und der Lebensnehmer ein und derselbe waren, nur zwei verschiedene Aspekte des einen und einzigen Schöpfers. Ich bin bereit, sagte Jamie stumm. Ich habe mein Bestes getan. Jetzt bin ich bereit für dich. Er hörte Coyote in der eisigen Dunkelheit der Nacht lachen.

SOL 40

MITTERNACHT

Ein schwaches Brummen drang an seine Ohren. Es war völlig dunkel, er konnte nichts sehen. Sein Körper fühlte sich taub an, in Eis gehüllt. Aber da war dieses leise, summende Geräusch von irgendwoher.

Seine Augen waren verklebt. Zu müde, um auch nur den Versuch zu unternehmen, den Kopf zu heben oder die Arme zu bewegen, setzte Jamie jedes Atom seiner Willenskraft daran, die Augen zu öffnen. Ein verschleiertes Durcheinander von Grautönen schwamm vor ihm. Er zwinkerte mehrmals. Es war die gekrümmte Decke des Rovers. Das Summen war das stetige Hintergrundgeräusch der Elektrik. Er lag auf einer der Liegen auf dem Rücken. Einer unteren Liege, wie er sah, während er weiterhin zwinkerte und blinzelte und das Bild scharfzustellen versuchte. Die obere Liege war eingeklappt und verriegelt.

Wosnesenski tauchte über ihm auf. Sein fleischiges Gesicht war merkwürdig sanft und weich. Sein zerknitterter grüner Overall sah zu groß für ihn aus, als ob er abgenommen hätte.

Jamie versuchte, etwas zu sagen, aber seine Kehle war zu trocken. Es kam nur ein rauhes Ächzen heraus.

»Ruhen Sie sich aus, mein Freund«, sagte Wosnesenski leise. »Strengen Sie sich nicht an. Hier …«

Der Russe hob Jamies Kopf und führte einen dampfenden Becher an seine Lippen. »Ganz langsam … nur einen kleinen Schluck.«

Die Flüssigkeit auf Jamies Zunge fühlte sich kochend heiß an. Und gut. Heißer Tee mit einem ordentlichen Schuß Zitronenkonzentrat. Er trank mehrere Schlucke. Die Wärme strömte ihm durch den ganzen Körper.

Wosnesenski ließ Jamies Kopf sanft wieder auf die Liege zurücksinken und sah ihn dann wortlos mit dunklen, ernsten Augen an. Jamie stellte fest, daß der Russe nicht stand, sondern auf der Liege nebenan saß. Vorn im Cockpit hörte er Iwschenko etwas auf Englisch sagen: Er erstattete der Kuppel oder vielleicht direkt Dr. Li Bericht.

»Sie sind rausgegangen«, krächzte Jamie. »Sie sind rausgegangen und haben mich geholt.«

Der Russe schüttelte den Kopf. »Reed ist gegangen.«

»Tony? Tony hat mich reingeholt?«

Wosnesenski nickte.

Jamie lag da und merkte, daß sie ihm den Raumanzug ausgezogen hatten. Er schob eine Hand in die Tasche mit dem Bärenfetisch; er fühlte sich fest, warm und tröstlich an. Tony ist rausgegangen und hat mich geholt, sagte er sich. Tony hat kein EVA-Training, aber er ist im Dunkeln rausgegangen und hat mich reingeschleift.

Er hörte die dumpfen Geräusche von Stiefeln, und dann erschien Reed in seinem Blickfeld. Er steckte immer noch in seinem gelben Raumanzug; nur den Helm hatte er abgenommen. Er sah aus wie jemand, der in einer Spielhalle hinter einer ausgeschnittenen Pappfigur posierte.

»Sie haben großes Glück gehabt, James«, sagte der Engländer sanft. »Keine Erfrierungen. Wir haben Sie gerade noch rechtzeitig erwischt.«

»Sie haben mir das Leben gerettet.«

Reeds Gesicht rötete sich ein wenig. »Wir konnten Sie ja nicht da draußen erfrieren lassen, oder?«

»Unser Arzt ist zum Helden geworden«, sagte Wosnesenski. Aber er lächelte nicht.

»Es hat viel Mut gekostet, im Dunkeln hinauszugehen«, sagte Jamie. »Der Mars hat Ihnen Mut gegeben.«

Reed warf einen raschen Blick zu Wosnesenski. »Das war keine Heldentat. Mikhail Andrejewitsch hätte mich erwürgt, wenn ich nicht gegangen wäre«, sagte er. »Eigentlich habe ich mir dadurch selber das Leben gerettet.«

»Das glaube ich nicht. Dazu war viel Courage nötig. Ein Feigling wäre hier drin geblieben, da hätte Mikhail ihn noch so sehr bedrohen können.«

»Sie waren praktisch schon hier«, sagte Reed. »Sie sind keine paar hundert Meter vom Rover entfernt zusammengebrochen. Wir konnten nicht hier sitzenbleiben und Sie sterben lassen. Das hätte für die anderen drei aus Ihrer Gruppe ja ebenfalls den Tod bedeutet, nicht wahr?«

»Aber trotzdem …«

Wosnesenski schaute mit finsterer Miene auf Jamie herab. »Im Vergleich zu dem, was Sie in Ihrer Verfassung getan haben, ist der kleine Ausflug unseres Arztes nicht der Rede wert.«