ERDE
Alberto Brumado lächelte müde in die grellen Scheinwerfer. Er glaubte nachvollziehen zu können, wie erschöpft die Forscher auf dem Mars sein mußten; ihm ging es genauso. Er wußte nicht mehr, wie viele Stunden er vor den Scheinwerfern, den Kameras und den Reportern gesessen, ihre Fragen beantwortet und sie mit den Neuigkeiten von dem gestrandeten Team versorgt hatte, sobald er sie erhielt.
Da sich das kleine Foyer des Hotels rasch als zu klein für Brumados improvisierte Pressekonferenz erwiesen hatte, waren sie — Reporter, Kamerateams, Scheinwerfer und so weiter — in den größten Tagungsraum des Hotels umgezogen. Es dauerte nicht lange, dann war auch der rammelvoll, und die Menschen drängten sich bis draußen auf dem Flur jenseits der großen Doppeltür.
Die Funktionäre des Marsprojekts im Johnson Space Center waren anfangs wütend darüber gewesen, daß Brumado einfach so aus dem Stegreif mit den Medien sprach. Aber nach den ersten paar Stunden und eiligen telefonischen Diskussionen mit Washington und Kaliningrad hatten die hohen Tiere des Projekts Brumado ihren eigenen geräumigen Konferenzsaal im Johnson Space Center angeboten.
Keiner der Presseleute wollte jedoch im Hotel Schluß machen und ins Johnson umziehen — nicht, solange sie Brumado, der eine bravouröse Marathon-Vorstellung gab, live bei sich hatten. Also schluckten die Johnson-Leute ihren Ärger hinunter und gaben an Brumado die Informationen weiter, sobald diese vom Mars hereinkamen.
Brumado saß auf einem Klappstuhl hinter einem kleinen Tisch auf dem provisorischen Podium, das rasch am hinteren Ende des Raumes errichtet worden war. Schwitzend, mit zerzausten Haaren und zerknittertem Anzug — die Krawatte hatte er schon längst abgelegt — nahm er ein weiteres Blatt Papier von Edith entgegen, überflog es rasch und lächelte dann in die Kameras.
»Sie sind in Sicherheit«, sagte er, die schönsten vier Worte, die er je ausgesprochen hatte. »Doktor Waterman ist mit dem Seil zum zweiten Rover hinübergegangen, und Kosmonaut Wosnesenski hat dann die anderen zu seinem Fahrzeug herübergeholt. Sie sind bereits auf dem Rückweg zur Kuppel.«
Er konnte die Meute der Reporter jenseits der grellen Fernsehscheinwerfer nicht sehen, hörte aber, wie sie vernehmlich aufatmeten und dann in spontanen Applaus ausbrachen. Brumado war überrascht; dann fragte er sich, ob ihr Beifall der guten Nachricht oder seiner Darbietung galt. Der guten Nachricht natürlich. Joanna ist in Sicherheit. Sie wird überleben. Er stand mit schwachen, zitternden Beinen auf und hob beide Hände.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen — ich würde jetzt gern eine Pause machen. Alles weitere können Sie dann von den Presseleuten im Space Center erfahren, wenn Sie so freundlich wären, sich dorthin zu begeben.«
Sie applaudierten ein zweites Mal und überraschten ihn erneut. Diesmal galt der Applaus eindeutig ihm. Alberto Brumado lächelte jungenhaft und stellte fest, daß er dringend zur Toilette mußte.
Edith, die an einer Seite des Podiums stand, wußte, daß Brumado sofort würde mit seiner Tochter sprechen wollen. Sie hatte die Absicht, dabei zu sein, wenn er es tat. Es würde ihre Chance sein, Jamie zu sehen.
Er ist in Sicherheit, sagte sich Edith. Und ein Held. Sie war stolz auf ihn. Und auf Alberto, der diese Beinahe-Katastrophe in einen globalen Triumph der Medien verwandelt hatte.
Erst dann, nach zwölf langen Stunden, begann Edith darüber nachzudenken, wie sie dieses Ereignis nutzen konnte, um ihre Karriere voranzutreiben.
SOL 45
MORGEN
Alle sind so verdammt froh darüber, daß wir abfliegen, dachte Jamie. Warum ich nicht?
Sie hatten ihre Proben und Computerdisketten an Bord der Aufstiegsmodule der L/AVs verstaut. Die gesamte Laborausrüstung und ihre restlichen Vorräte waren sorgfältig abgedeckt und versiegelt worden und blieben zusammen mit den Möbeln und dem Lebenserhaltungssystem in der Kuppel, so daß die nächsten Forscher sie benutzen konnten — falls es eine zweite Marsexpedition gab.
Jamie hatte das Gefühl, als würde er eine Heimat verlassen, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte. Er erinnerte sich an das hohle, beinahe angstvolle Gefühl in der Magengrube an jenem Tag, da er mit seinen Eltern aus Santa Fe nach Berkeley abgereist war, ihrem neuen Zuhause. Damals war er fünf Jahre alt gewesen. Komisch, woran man sich so erinnert, dachte er.
In der Kuppel herrschte jetzt hallende Leere. Jamie war traurig und bedrückt.
»Da kommt gerade eine Botschaft für Sie rein«, riß ihn Ollie Zieman aus seinen Träumereien. Der Astronaut hielt Wache an der Kommunikationskonsole, bis das letzte L/AV startklar war.
Jamie folgte ihm zum Kommunikationszentrum und setzte sich vor die Hauptkonsole. Zu seiner Überraschung sah er Ediths Gesicht auf dem Bildschirm.
Sie sah sehr müde aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen. Aber glücklich.
»Jamie, ich versuche jetzt seit fünf Tagen, zu dir durchzukommen. Die Leute vom Projekt haben mir endlich erlaubt, euch allen eine persönliche Botschaft zu schicken. Wir — Alberto und ich — wir waren fast nonstop auf Sendung und haben versucht, Schadensbegrenzung für das Projekt zu betreiben, wie ihr es nennen würdet. Alberto hat detailliert über eure Rettung berichtet, und ich habe dafür gesorgt, daß seine Version der Geschehnisse über die Sender ging, bevor irgend jemand anders auch nur Piep sagen konnte.«
Jamie grinste ihr Bild an. Ganz gleich, wie sie ihr Privatleben gestaltete, Edith war Mitglied des Marsteams geworden.
»Tja, sie haben mir nur eine Minute von ihrer kostbaren Übertragungszeit gegeben, also kann ich nur sagen — ich warte in Washington auf euch, wenn ihr zurückkommt. Ich werde die reguläre hauptamtliche Raumfahrtkorrespondentin von Cable News sein, und ich erwarte, daß du mir ein privates und exklusives Interview gibst. Ganz gleich, mit wem du sonst noch gesprochen hast, wenn du verstehst, was ich meine. Ich möchte dich interviewen. Kapiert?«
Sie blickte erwartungsvoll vom Bildschirm herunter. Jamie schaute über die Schulter hinweg zu Zieman, der eifrig so tat, als hätte er nicht gelauscht.
»Okay.« Jamie wußte, daß es über zwölf Minuten dauern würde, bis seine Worte bei Edith eintrafen. »Ein ausführliches Exklusiv-Interview. Wie damals in Galveston, als ich erfahren hatte, daß ich ins Landeteam aufgenommen worden war. Vielleicht kannst du’s arrangieren, daß wir uns in der Raumstation treffen. Schwerelosigkeit kann richtig Spaß machen.«
Er spürte, daß jemand anders hinter ihm stand. Er drehte sich auf dem Stuhl um und sah, daß es Joanna war. Sie blickte ihn mit einem seltsamen, spöttischen Lächeln auf den Lippen an und hielt die Finger beider Hände hoch. Neun Finger. Wir werden neun Monate lang im Transit sein, übersetzte Jamie ihre stumme Botschaft.
Joanna ging davon. Sie lächelte immer noch. Und Jamie begriff, was sie ihm da gerade signalisiert hatte: daß der Rückflug ganz anders verlaufen würde als der Hinflug.
»Wir sollten jetzt die Anzüge anlegen«, sagte Wosnesenski ganz sanft.
Zum letzten Mal, dachte Jamie. Noch eine letzte Stunde in den harten Anzügen, dann sind wir an Bord der Raumschiffe und können den Heimflug antreten. Alle machten sich auf den Weg zur Luftschleuse und den Gestellen mit den Anzügen, die dort wie immer auf sie warteten.
Zieman und Dr. Yang gingen mit Tony Reed. Die kleine chinesische Ärztin ging vor dem Engländer her, der stämmige Astronaut folgte ihm. Wie ein Gefangener unter Hausarrest, dachte Jamie. Sie geben ihm jetzt schon die Schuld an dem Skorbut-Ausbruch. Auf der Erde wollen sie einen Sündenbock haben, und sie haben beschlossen, daß es Tony sein wird.
Reed wirkte blaß und verschlossen, aber als er Jamie zu sich aufschließen sah, kehrte sein altes schiefes Grinsen zurück. »Mein Gott, James, Sie schauen ja wirklich mißmutig drein. Wollen Sie nicht nach Hause?«