Jamie setzte sich zwischen den Engländer und Joanna Brumado, die ihn zur Begrüßung anlächelte.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie noch hierbleiben würden«, sagte sie im Flüsterton, wie ein kleines Mädchen, das dazu erzogen worden war, so leise wie möglich zu sein.
»Es war Doktor Lis Idee«, erwiderte Jamie knapp.
»Der Kommandant der Basis wird euch bei der Besprechung gleich nach dem Mittagessen alles erklären.«
»Ich möchte wissen, ob unser schlauer Chinese irgendeine Art mano a mano in petto hat«, sinnierte Reed.
Jamie hätte ihn am liebsten wütend angefunkelt, aber er beherrschte sich.
»Mano a mano?« fragte Dorothy Loring. »Wie beim Stierkampf?« Sie war eine grobknochige Blondine, die ihren dicken Sweater und ihre schwere Jeans wie eine zweite Haut trug, eine moderne, von Wikingern abstammende Walküre. Sie war auf der Farm ihrer Eltern in Manitoba aufgewachsen, hatte an der McGill University promoviert und gleich nach der Promotion am Salk Institute in La Jolla zu arbeiten begonnen.
Reed zeigte mit den Augen hin. Am anderen Ende des Tisches saß Franz Hoffmann, ganz für sich allein. Er blickte aufmerksam und mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm eines Computers, den er vor sich auf den Tisch gestellt hatte.
Jamie sagte nichts.
Joanna auch nicht, aber ihre Augen zeigten, daß sie Reeds Andeutung verstand. Es waren wunderbar sanfte braune Augen, groß und feucht, weit auseinanderstehend wie die eines Kindes. Joanna war klein und rund und verschwand fast in einem unförmigen braunen Sweater. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von einer dunklen Masse von Haaren umrahmt, die sich dicht lockten, obwohl sie kurzgeschnitten waren. Für Jamie sah sie mit ihrem kleinen Wuchs und diesen großen braunen Augen, die bekümmert, ja beinahe verängstigt wirkten, wie ein heimatloses, verlorenes Kind aus.
»Unser Wiener Freund«, sagte Reed mit leiserer Stimme, »ist nicht sehr beliebt, fürchte ich.«
»Das sollten Sie nicht sagen«, wisperte Joanna.
»Warum nicht?« fragte Reed. »Guter Gott, der Mann hat den Charme eines preußischen Zuchtmeisters. Und die entsprechenden Tischmanieren.«
Loring brach in Gekicher aus und legte dann rasch die Hand vor den Mund, um es zu ersticken. Jamie, der von seinem Platz aus Hoffmann direkt vor Augen hatte, sah, daß der Österreicher kein einziges Mal von seinem Computer aufschaute und nicht einmal durch einen raschen Seitenblick zur Kenntnis nahm, daß außer ihm noch jemand im Raum war.
3
»Ich verstehe nicht«, sagte Franz Hoffmann. »Glaubt Doktor Li, daß ich einen Assistenten brauche? Einen Sherpa-Führer, der mir auch noch das Gepäck den Berg hinaufträgt?«
Jamie hielt seine aufkeimende Wut nur mit Mühe im Zaum. Da er zu dem Schluß gekommen war, daß er Hoffmann in der engen, unter Schnee begrabenen Basis unmöglich aus dem Weg gehen konnte, wollte er versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen, indem er dem Österreicher anbot, ihm bei der Fortsetzung der Meteoritensuche draußen auf dem Gletscher zu helfen.
Hoffmann war gerade dabei gewesen, seine Kleidung auszupacken, als Jamie an die halb offenstehende Tür seines Zimmers klopfte. Wie der Zufall es wollte, war es derselbe Raum, den Dr. Li gerade verlassen hatte. Hoffmann hatte ihn jedoch bereits in sein persönliches Reich verwandelt. Eine anderthalb Meter lange Fotomosaik-Karte des Mars war an die senkrechte Wand über dem Etagenbett gepinnt. An die gebogene Wand neben dem Schreibtisch hatte der Geologe ein kleineres Satellitenfoto des Markham-Gletschers geklebt, auf dem die Stellen, wo man Meteoriten gefunden hatte, bereits mit roten Kreisen markiert waren. Auf der vom Staat gestellten Kommode mit den drei Schubladen stand ein gerahmtes Farbfoto, eine pausbäckige junge Frau mit zwei kleinen Kindern auf den Armen, die unsicher in die Kamera lächelte.
»Hören Sie«, sagte Jamie und lehnte sich an den Türstock, »Li hat mich gebeten, Ihre Gruppe während des sechswöchigen Aufenthalts hier zu unterstützen. Wenn Sie daran interessiert sind, die Suche nach Meteoriten fortzusetzen, bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen.«
Hoffmann beäugte Jamie stumm, dann machte er sich wieder daran, zusammengelegte Kleidungsstücke aus einem großen Koffer auf dem Bett zu nehmen und in ordentlichen Stapeln in den Schubladen der Kommode zu verstauen.
»Ich kann Ihnen zumindest zeigen, welche Gebiete ich schon durchforstet habe«, sagte Jamie. »Außer, Sie wollen die Gebiete, in denen nichts gefunden worden ist, noch mal absuchen.«
»Diese Informationen sind doch in der Datenbank, oder nicht?« fragte Hoffmann.
Er war ungefähr so alt und so groß wie Jamie, wirkte aber dünn und beinahe schwächlich, während Jamie kräftig und gedrungen war. Hoffmann hatte runde Schultern und ein rundes Gesicht. Sein Haar wurde bereits grau und war so kurz geschnitten, daß es dicht am Schädel anlag. Sein Gesicht war der Inbegriff finster brütenden Mißtrauens — kleine, zusammengekniffene Augen und schmale, fest zusammengepreßte Lippen. Wenn man ihm ein Monokel aufsetzen würde, dachte Jamie, dann sähe er wie ein alter Nazi-General aus.
»Ja, im Computer ist eine vollständige Datei von meinen Exkursionen auf den Gletscher«, erwiderte Jamie gelassen. »Aber wenn man erst mal da draußen auf dem Eis ist, verlieren die Computerdaten viel von ihrer Bedeutung. Nicht mal die Satellitenbilder sind da draußen noch eine große Hilfe.«
»Ich habe schon Arbeit im Gelände gemacht«, sagte Hoffmann steif. »Ich bin im Schatten der Alpen geboren. Das ist mir alles keineswegs neu.«
»Wie Sie meinen«, sagte Jamie. Er wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie.«
»Wozu?«
Hoffmann stand mitten im Zimmer. Seine Finger trommelten ungeduldig an die Seiten seiner schweren Wollhose, ohne daß er es merkte.
»Sagen Sie«, sein Ton war nicht mehr ganz so scharf, »wie kommt Doktor Li darauf, daß ich einen Assistenten brauche?«
»Es ist nicht …«
Hoffmann ließ Jamie nicht aussprechen. »Sie hatten keinen Assistenten. Keiner der anderen Geologen hat Assistenten. Ist Li etwa der Meinung, daß ich unfähig bin? Glaubt er, ich schaffe es nicht allein? Will er mich auf diese Art dezent loswerden?«
Jamie merkte, wie ihm das Kinn herunterfiel. Hoffmann war ebenso besorgt und ängstlich wie er. Hinter der spröden Fassade steckte ein Mann, der genau wie Jamie Angst davor hatte, auf der Strecke zu bleiben.
Mist! knurrte Jamie in sich hinein. Es wäre so viel einfacher, wenn ich den Kerl hassen könnte.
4
Nach dem Mittagessen und der kurzen Einführungsansprache des Kommandanten der Basis verbrachte Jamie den Rest des Tages damit, alle Neuankömmlinge einzeln zu begrüßen und ihnen zu erklären, daß er dazu da sei, ihnen auf Wunsch mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Er fühlte sich unwohl und kam sich eher wie ein unerwünschter und nicht benötigter Gehilfe als wie ein geschätzter Verbündeter vor, dem man vertraute.
Sein Inneres war in Aufruhr wegen Hoffmann. Gehe eine Meile in den Mokassins des anderen, dachte er. Klar. Tolle Idee. Kein Wunder, daß die Indianer von den Weißen überrannt worden waren.
Nach seinen Gesprächen mit den ersten drei Neuankömmlingen hatte Jamie eine kleine Rede fertig, die rasch und mit einem Minimum an Peinlichkeit erklärte, warum er in der Basis geblieben war und was er ihnen anbot. Die Reaktionen der Neuankömmlinge variierten von Hoffmanns Angst, für unzulänglich gehalten zu werden, bis zu Tony Reeds zynischem, wissendem Lächeln.