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»Ist die kleine Joanna darüber im Bild, daß Sie ihren persönlichen Begleiter spielen sollen?« fragte Reed.

»Ich glaube nicht, daß jemand es ihr mitgeteilt hat«, erwiderte Jamie.

Reeds schiefes Grinsen wurde beinahe höhnisch. »Sie müßte ja ein Dummkopf sein, wenn sie nicht von selbst darauf käme.«

»Mag sein«, sagte Jamie.

Er hatte sich Joanna bis zuletzt aufgehoben, und jetzt, wo er so frustriert und erschöpft war wie in dem Winter, als er mit dem Fahrrad durch sein Viertel in Berkeley gefahren war und versucht hatte, Zeitschriftenabonnements zu verkaufen, klopfte er an die Tür ihres Zimmers.

Sie öffnete die Tür, blickte zu ihm auf und lächelte.

»Kommen Sie herein«, sagte Joanna Brumado mit ihrer Kleinmädchenstimme. »Setzen Sie sich.«

Sie hatte immer noch den Sweater und die Jeans an, in denen sie angekommen war. Ihr Zimmer war ordentlich aufgeräumt, geleerte Koffer stapelten sich in der gegenüberliegenden Ecke, der Kleidersack hing hinter der Tür. Ihr Laptop stand offen auf dem Schreibtisch, aber der Bildschirm war dunkel und stumm. An den Wänden hingen keine Bilder, und es waren keine persönlichen Dinge zu sehen.

Jamie nahm auf dem Stuhl Platz, der neben dem Bett stand.

»Wie ich schon allen anderen erzählt habe«, begann Jamie, »hat Doktor Li mich gebeten, hier in McMurdo zu bleiben, um Ihnen und dem Rest Ihrer Gruppe zu helfen, die sechs Wochen hier möglichst leicht und gewinnbringend zu überstehen.«

Joanna ging zum Schreibtisch, setzte sich auf den Stuhl dahinter und verwandelte den Schreibtisch auf diese Weise in eine schützende Barriere.

Mit völlig ernster Miene sagte sie: »Wir können ehrlich zueinander sein, James.«

»Jamie.«

Ihre Lippen verzogen sich nicht zu einem Lächeln. Ihre leuchtenden dunklen Augen schauten düster drein. »Sie sind hier, um dafür zu sorgen, daß ich diesen Teil des Trainings durchstehe. Sie sind dageblieben, weil ich Alberto Brumados Tochter bin, und aus keinem anderen Grund.«

Na, ein Dummkopf ist sie also nicht, sagte sich Jamie. Sie gibt sich keinen Illusionen hin. Macht sich nichts vor.

»Doktor Li hat mich gebeten zu bleiben«, sagte er.

»Meinetwegen.«

»Es war seine erste große Entscheidung als Expeditionskommandant.«

Ihre Augen ließen seine nicht los. »Und was ist mit Ihrem Training? Ihre eigene Gruppe macht doch mit dem regulären Programm weiter, nicht wahr?«

»Sie gehen nach Utah, ja.«

»Und Sie?«

Jamie zwang sich, die Schultern zu heben. »Ich habe den Sommer meistens in New Mexico verbracht. Vielleicht meint Doktor Li, daß ich nicht noch mehr Zeit in der Wüste brauche.«

Joanna schüttelte den Kopf. »Er hat Sie gebeten, hierzubleiben? Er selbst? Persönlich?«

»Ja.«

»Und Sie haben sich einverstanden erklärt?«

»Was hatte ich denn für eine Wahl? Hätte ich Li sagen sollen, daß ich mich weigere, seiner ersten größeren Entscheidung zu gehorchen? Wie sähe das in meiner Akte aus?«

Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ja, er hat Ihnen eigentlich gar keine Wahl gelassen, nicht wahr?«

»Nun, ich bin hier und Sie sind hier, also sollten wir versuchen, das Beste daraus zu machen.«

»Aber Sie verwirken Ihre Chance, bei der Mission mit dabei zu sein, und das nur meinetwegen.«

»Ich glaube, das ist schon entschieden«, sagte Jamie, überrascht von der unüberhörbaren Bitterkeit in seinem Ton.

»Ich könnte meinen Vater anrufen«, sagte Joanna zögernd. Sie wandte den Blick ab. »Ich könnte ihm sagen, was Doktor Li Ihnen angetan hat.«

Jamie versuchte, hinter ihre Worte vorzudringen, zu verstehen, was in ihr brodelte. Sie war nicht wütend, aber etwas strahlte von dieser elfenhaften Frau aus, die dort hinter dem Schreibtisch saß. War es Angst? Verbitterung? Oder auch Ärger über die Ungerechtigkeit?

»Haben Sie Angst, daß die anderen denken könnten, Sie würden besonders behandelt?«

»Ich werde doch besonders behandelt!«

»Und das gefällt Ihnen nicht?«

»Es könnte Sie Ihre Chance kosten, bei der Mission mit von der Partie zu sein.«

»Aber es ist wichtig für Ihren Vater, daß Sie zum Mars fliegen.«

Ihre Augen wurden noch größer.

»Ist es auch wichtig für Sie?« fragte Jamie.

»Wichtig? Daß ich zum Mars fliege?«

»Ganz recht.«

»Natürlich ist das wichtig! Glauben Sie, ich bin nur hier, um mir die Wünsche meines Vaters zu eigen zu machen und sie zu befriedigen?«

Irgendwo in seinem Innern registrierte Jamie, daß Joanna schön war. Ihr Körper war jedenfalls durchaus erwachsen; nicht einmal der unförmige Sweater konnte das verbergen. Es war ihr Gesicht, das ihr das verlorene, schutzlose Aussehen eines Straßenkindes verlieh, verletzlich, aber wissend. Und diese leise, flüsternde Stimme. Ihre tiefen braunen Augen waren groß und fast so dunkel wie die von Jamie.

Jamie schaute in diese leuchtenden Augen und sah Gefühle, die miteinander im Widerstreit lagen. Wovor hat sie Angst, fragte er sich. Sie sagt, sie will nicht die Schachfigur ihres Vaters sein, aber sie will auch keinesfalls auf der Strecke bleiben. Das ist unverkennbar. Sie will zum Mars. Unbedingt.

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte er. »Das ist jetzt mein Job.«

»Ich rufe meinen Vater an und erzähle ihm, was Doktor Li mit Ihnen gemacht hat. Es ist nicht fair, daß …«

Jamie brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. »Sie wollen doch nicht, daß Li und Ihr Vater Ärger miteinander bekommen. Das wäre schlecht für alle — und erst recht für Sie.«

»Aber Sie. Was ist mit Ihnen?«

Er lächelte gezwungen. »Die Navajos glauben, daß ein Mensch im Gleichgewicht mit der Welt um sich herum sein muß. Das bedeutet manchmal, daß man Dinge hinnehmen muß, die einem nicht besonders gefallen.«

»Das ist Stoizismus.«

»Ja, das ist es wohl«, sagte Jamie und gab sich alle Mühe, seine wahren Gefühle zu verbergen.

5

Ich wünschte wirklich, Pater DiNardo wäre hier, sagte sich Antony Reed zum zwanzigsten Mal an diesem Vormittag. Er ist der einzige, der diesen österreichischen Musterknaben in seine Schranken weisen könnte.

Reed saß an seinem Schreibtisch in dem kleinen Raum, der als Krankenrevier der Basis diente. Man hatte den Schnee vor dem einzigen Fenster des Raumes weggeschaufelt; blasses Sonnenlicht fiel herein, und durch die Dreifachscheiben zeigte sich ein milchiger, perlgrauer Himmel. Anstelle der Bücherregale und Geräteborde, mit denen die meisten Büros in der halb begrabenen Basis vollgestopft waren, enthielt das Krankenrevier einen Untersuchungstisch und medizinische Apparate.

Reed teilte sich den Raum mit dem ›Haus‹-Arzt, einem Stabsarzt, der sich um die alltäglichen medizinischen Bedürfnisse der regulären Besatzung der Basis sowie der Marsrekruten kümmerte. Reeds Arbeit hatte mehr mit dem Computer auf dem Schreibtisch als mit Tabletten und Verbänden zu tun. Für die Mitglieder des Trainingsteams fungierte er eher als Psychologe denn als Sanitätsoffizier.

Der Computerbildschirm zeigte, daß er als nächstes einen Termin mit Franz Hoffmann hatte. Reed verabscheute den österreichischen Geologen, verabscheute alles an ihm — besonders seine angeblichen Erfolge bei den weiblichen Trainingsteilnehmern. Er fragte sich immer wieder, wie eine anständige Frau mit einiger Selbstachtung sich von diesem arroganten Neonazi anfassen lassen mochte.

Doch die Geschichten waren zweifellos wahr. Hoffmann konnte charmant sein und mit Frauen umgehen. Und Reed merkte, daß er ihn darum beneidete.

Er beugte sich auf dem knarrenden Drehstuhl vor und ließ die Finger über die Tastatur des Computers fliegen. Er hatte Zugriff auf sämtliche Details der medizinischen und psychologischen Unterlagen aller Mitglieder des Trainingsteams. Vielleicht gab es bei Hoffmann etwas, mit dessen Hilfe man ihn für die Mission disqualifizieren konnte.