Eifrig durchsuchte Reed Hoffmanns Dossier. Der Gedanke, mit dem Österreicher neun Monate in einem engen Raumschiff verbringen zu müssen, deprimierte ihn zutiefst.
Nichts. Seine Akte war makellos. Sogar eindrucksvoll. Doktortitel in Physik und Geologie. Hervorragender Gesundheitszustand. Keinerlei aktenkundige psychologische Probleme bisher; soweit es den Unterlagen zu entnehmen war, hatte er nur ein einziges Mal Kontakt zu Psychologen gehabt, nämlich als er die Standardtests absolviert hatte, die zu den Voraussetzungen für die Teilnahme am Marsprojekt gehörten. Die Testergebnisse waren jämmerlich normal. Entweder ist er wirklich so langweilig, wie er zu sein scheint, oder er ist ein Meister darin, seine wahre Persönlichkeit zu verbergen, dachte Reed.
Natürlich kein Hinweis auf seine Affären. Solche Informationen gelangten selten in die Akte. Außer wenn es einen Vorfall gab, der so schlimm war, daß er nicht vertuscht werden konnte.
»Ahhh!« sagte Reed mit leiser Stimme, aber vernehmlich. Ein Vorfall, der so schlimm war, daß er nicht vertuscht werden konnte. Vielleicht ließ sich so etwas inszenieren.
Er brauchte ein Opfer. Eine Frau, die an Hoffmanns Annäherungsversuchen nicht nur Anstoß nehmen, sondern auch Stunk deswegen machen würde. Und er hatte auch schon eine im Auge.
Er ging die Dateien rasch durch und fand die Frau. Ihr Hintergrund und ihr Persönlichkeitsprofil waren nahezu ideal. Nach dem, was Reed aus dem persönlichen Kontakt über sie wußte, würde die flegelhafte Art des Österreichers sie erschrecken und empören.
»Ist einen Versuch wert«, murmelte Reed, und ein schiefes kleines Lächeln breitete sich auf seinem hübschen Gesicht aus. »Ich könnte mich sogar bereit finden, das arme Frauenzimmer hinterher zu trösten.«
Er löschte den Bildschirm und schaute erwartungsvoll zur Tür. Genau zum verabredeten Zeitpunkt klopfte Franz Hoffmann einmal an, öffnete dann die Tür und betrat das Krankenrevier. Er sah aus, als wäre er bereit, einen Ritterschlag zu empfangen. Das runde Gesicht war rasiert und rosarot geschrubbt, das Haar mit Gel zurückgekämmt, und er trug ein frisches, steifes Hemd und eine Hose mit einer Bügelfalte, mit der man Brot schneiden konnte. Sogar seine Schuhe waren poliert.
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte Reed vergnügt.
Während der oberflächlichen Untersuchung hatte Reed Mühe, ernst zu bleiben. Er mußte immer wieder an Brownings wundervolles Selbstgespräch im spanischen Kloster mit seiner perfekten Schlußzeile denken: »G-r-r — du Schwein!«
Reed plauderte freundlich und in seinem besten Ärzteton mit dem Österreicher. Hoffmann standen im Gespräch nur zwei Verhaltensweisen zu Gebote, soweit Reed erkennen konnte: entweder finsterer Argwohn oder blasierte Überheblichkeit. Der Österreicher nahm Reeds Freundlichkeit für bare Münze und reagierte darauf mit einem Hochmut, der Reed rasend machte. Er merkt nicht einmal, daß er es tut, dachte Reed. Was ihm erst recht das Genick brechen würde.
Während er Hoffmanns Blutdruck maß, ihn bat, sich auf den Tisch zu legen, damit er ein EKG machen konnte, und hier und dort auf ihm herumklopfte, brachte Reed langsam und geschickt das Gespräch auf das Thema Frauen.
»Ich weiß nicht, wie Sie das machen«, sagte er gewandt. »Bei hübschen Mädchen scheine ich zwei linke Hände zu haben.«
»Das liegt wahrscheinlich an Ihrem Schulsystem«, erwiderte Hoffmann hochnäsig. »Ihr Engländer werdet auf Jungenschulen geschickt. Außer euren Müttern und Kindermädchen bekommt ihr keine Frauen zu sehen, bis ihr euren Collegeabschluß macht. Daher gibt es bei euch auch so viele Homosexuelle.«
Reed setzte ein sonniges Lächeln auf. G-r-r — du Schwein! dachte er im stillen.
»Die meisten jungen Frauen suchen Vaterfiguren«, erläuterte Hoffmann. »Es ist gar nicht nötig, sie großartig zum Abendessen auszuführen; stellen Sie ihnen gegenüber nur eine Mischung aus Autorität und Freundlichkeit zur Schau, und sie werden Ihnen geradezu ins Bett fallen.«
»Ist das wahr?«
»Bei mir hat es immer geklappt. Die einzige Schwierigkeit ist, daß sie manchmal nicht merken, wann die Affäre vorbei ist. Man braucht großes Geschick, um sie wieder loszuwerden. Jedenfalls mehr, als um sie ins Bett zu bekommen.«
»Hmm, darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
»Bei dieser Mission hier muß man natürlich sehr vorsichtig und sehr diskret sein. Und sich die Frauen genau aussuchen. Die einen wissen, was sich gehört, die anderen nicht.«
»Ja, ich verstehe.« Reed schwieg gerade lange genug, um sich ein Lachen zu verbeißen. »Woran erkennt man denn, wer zu welcher Sorte gehört?«
Hoffmann setzte ein öliges, durchtriebenes Lächeln auf und winkte Reed näher zu sich heran.
»Sie testen Ihre Versuchspersonen natürlich vor dem Flug«, flüsterte er. »Was sollte ein guter Wissenschaftler sonst tun?«
»Die Versuchspersonen testen? Oh, natürlich. Tun Sie das gerade?«
Etwas flackerte in Hoffmanns Augen auf. Eine Ahnung von Gefahr vielleicht. Die Erkenntnis, daß er zuviel redete.
»Ein Gentleman schweigt und genießt«, erwiderte er ein wenig steif.
Reed zog eine Augenbraue hoch. »Ja, mir ist schon klar, daß es heikel werden könnte, wenn man mit den Frauen hier etwas anfängt. Das Thema ›Sex während der Mission‹ bereitet den Projektmanagern großes Kopfzerbrechen. Sie wollen nicht, daß das reibungslose Funktionieren des Teams derart gestört wird, wissen Sie.«
Hoffmann zog ebenfalls eine Augenbraue hoch. »Vielleicht würde das Team reibungsloser funktionieren, wenn bei dem Unternehmen eine gewisse Menge Schmiermittel im Spiel wäre.«
»Schmiermittel! Das ist gut!«
Hoffmann schaute selbstzufrieden drein, sagte aber nichts mehr.
»Wissen Sie.« — Reed senkte die Stimme dabei zu einem verschwörerischen Flüstern — »in der Gruppe hier gibt es eine Frau, die Sie sehr aufmerksam beobachtet hat.«
»Ach ja?«
»Sie hat mir gegenüber nichts gesagt, verstehen Sie, aber mir ist nicht entgangen, daß sie von Ihnen fasziniert ist. Und wenn je eine junge Frau zu einer Vaterfigur aufgeblickt hat, dann sie.«
»Wer?«
»Nun, Joanna Brumado natürlich. Wußten Sie das nicht?«
6
Jamie schob den Gang zum Speisesaal hinaus, bis er sicher war, daß die meisten anderen bereits gegessen hatten und in ihre jeweiligen Unterkünfte zurückgekehrt waren. Die Mitglieder der regulären McMurdo-Besatzung teilten sich die Schlafräume größtenteils mit den Forschern, die zu Besuch kamen; nur das Marsprojekt leistete es sich als einzigen Luxus, jedem Teilnehmer ein Einzelzimmer zur Verfügung zu stellen. Jamie hatte den Tag damit verbracht, mit den Neuankömmlingen zu reden, und sie und sich selbst damit in Verlegenheit gebracht. Nun wollte er mit keinem von ihnen mehr sprechen. Nicht an diesem Abend.
Tatsächlich war der Speisesaal beinahe leer. Ihm wurde klar, daß es ein langer Tag für die Neuankömmlinge gewesen war. Der Flug von Christchurch hierher dauerte selbst bei gutem Wetter zehn Stunden. Dann auspacken, sich in dieser spartanischen, gottverlassenen Basis einrichten — die meisten Neuankömmlinge lagen bereits in ihren Betten. Nur ein paar von ihnen saßen noch an einem der langen Eßtische, hockten müde über den Resten ihres Abendessens und unterhielten sich leise. Ein halbes Dutzend reguläre Techniker und Wartungsleute der Basis saßen in der Nähe der abgenutzten alten Kaffeemaschine und spielten Karten.
Jemand hatte eine Kassette in den Recorder oben am schneebedeckten Fenster gesteckt: ein leise klagendes altes Country-Lamento: »Mamas, don’t let your babies grow up to be cowboys …« Mütter, laßt nicht zu, daß eure Kinder später einmal Cowboys werden.