Выбрать главу

Oder Wissenschaftler, sagte sich Jamie, während er ein Tablett nahm und zur Selbstbedienungstheke hinüberging. Er merkte, daß er keinen Appetit hatte, und begnügte sich mit einem Stück des matschigen, aufgetauten Kuchens und einem Becher Kaffee. Dann ging er in die hinterste Ecke des Speisesaals hinüber und setzte sich allein ans Ende eines leeren Tisches.

Niemand schenkte ihm irgendwelche Aufmerksamkeit. Das war Jamie durchaus recht. Er war jetzt ein Außenseiter, ein Paria, und alle wußten es.

Dann kam Joanna herein. Sie trug ein dunkelgrünes Männerhemd aus Sämischleder, das sie wie ein Zelt umhüllte: Die Schultern hingen fast bis zu den Ellbogen herab, die Hemdschöße schlackerten ihr um die Knie. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, und darunter trug sie ein weißes T-Shirt und eine genoppte Laufhose. Bequeme Freizeitkleidung, sah Jamie. Sie wirkte jedoch nicht schlampig; leger, aber nicht ungepflegt.

Joanna ging schnurstracks zur Kaffeemaschine und schenkte sich einen dampfenden Becher voll ein. Dann schaute sie sich in dem nahezu leeren Speisesaal um, sah Jamie und kam an seinen Tisch.

»Ich konnte nicht einschlafen«, sagte sie und setzte sich an die Ecke des Tisches rechts neben ihm.

Jamie nickte zum Kaffeebecher. »Das wird Ihnen dabei nicht helfen.«

Sie lachte leise. »Oh, Koffein hält mich nicht wach. Ich bin mit Kaffee großgezogen worden.«

»In Brasilien.«

»Ja.«

Wie zum Beweis für ihre Behauptung trank Joanna einen großen Schluck und stellte den Becher auf die Resopalplatte. Jamie hätte sich gerne verdrückt, aber er wußte nicht wie.

Joanna sagte: »Wie ich höre, sind Sie Indianer.«

»Ein halber Navajo.«

»In Brasilien würde man Sie als Mestizen bezeichnen. Ich bin selber eine Mestizin. Mein Vater und meine Mutter sind auch beide Mestizen. In Brasilien gibt es Millionen von uns. Dutzende Millionen in Lateinamerika, von Mexiko südwärts.«

»Und zwei hier in der Antarktis«, sagte Jamie.

Sie lachte wieder, ein vergnügter, fröhlicher Laut. Sie wirkte nicht mehr so angespannt wie zuvor, und ihre Stimme war kräftiger. »Ja, zwei von uns sind hier.«

Jamie erwiderte ihr Lächeln. Sie begannen miteinander zu plaudern, locker und ruhig. Er merkte, wie er sich mit ihr zusammen entspannte.

Sie erzählte ihm von Sao Paulo und Rio, von den armen Bauern und Dorfbewohnern, die sich in einem solch reißenden Strom in die Städte ergossen hatten, daß diese zu einer einzigen, über dreihundert Kilometer langen urbanen Megacity angeschwollen waren, die sich von den Stränden bis zu den Bergen im Landesinneren erstreckte, funkelnde Hochhaustürme für die Reichen, ausgedehnte, schmutzige Slums für die Armen und ein giftiger, die Lungen zerstörender Smog für alle.

Jamie ertappte sich dabei, wie er ihr von Berkeley und der Bay erzählte, von dem schönen, erdbebengefährdeten San Francisco und den goldenen, fruchtbaren Tälern Kaliforniens. Und dann von New Mexico und seinem Großvater.

»Al hält sich für einen Navajo, aber er handelt wie ein weißer Geschäftsmann. Er bringt es fertig, jedem zu erzählen, daß ein Mann nicht reich werden kann, wenn er sich richtig um seine Familie kümmert, aber er besitzt die Hälfte aller Baugrundstücke im nördlichen Santa Fe.«

Jamie verlor jedes Zeitgefühl, während er sich mit Joanna unterhielt. Sie fragte ihn, ob er eine Freundin habe, und er erzählte ihr, daß er in Houston mit einer Fernsehmoderatorin zusammengewesen sei.

»Aber es ist nichts Ernstes«, fügte er rasch hinzu. »Was ist mit Ihnen? Sind Sie verheiratet? Verlobt?«

Joanna schüttelte den Kopf. »Nein. Ich lebe mit meinem Vater zusammen. Meine Mutter ist vor etlichen Jahren gestorben.«

Dann fragte sie: »Wann ist bei Ihnen das Interesse daran erwacht, zum Mars zu fliegen?«

»O Gott, das ist schon so lange her, daß ich mich nicht mal mehr dran erinnern kann … Moment, ja, doch.« Die Erinnerung wurde hell und scharf. »In der Grundschule. Wir haben einen Klassenausflug ins Planetarium gemacht. Dabei ging es ausschließlich um den Mars.«

»Ah«, sagte Joanna. »Bei mir war es natürlich mein Vater. Wir haben jeden Abend beim Essen und jeden Morgen beim Frühstück immer über den Mars gesprochen.«

»Ich habe daraufhin alles über den Mars gelesen, was ich in die Finger bekam. Romane und Sachbücher. Ziemlich bald fand ich die wissenschaftlichen Bücher viel interessanter als die Romane.«

»Sind Sie deshalb Wissenschaftler geworden?«

Jamie überlegte einen Augenblick lang. »Ja, ich glaube schon.«

»Aber weshalb Geologe?« fragte sie.

Mit einem Grinsen erwiderte Jamie: »Man kann nicht lange im Südwesten leben, ohne Geologe zu werden. Haben Sie schon mal den Grand Canyon gesehen? Oder den Barringer-Meteoritenkrater?«

Joanna schüttelte den Kopf.

»Die Berge, die Felsen — sie sind wie Bilderbücher, in denen die Geschichte des Planeten verzeichnet ist.«

»Und der Mars?«

Er zuckte die Achseln. »Eine neue Welt. Auf die noch niemand einen Fuß gesetzt hat.«

Jamie hatte an der Uni zwei Hauptfächer belegt: Geologie und Planetologie. Er wollte kein Steinschnüffler unter vielen werden oder bei einer Ölfirma landen. Er wollte herausfinden, was die Welt zu dem macht, was sie ist; nicht nur die Erde, sondern auch die anderen Planeten.

Aber es gab keine Jobs in der Planetologie, als er mit seinem brandneuen Doktortitel von der Uni abging. Deshalb nahm er nach der Promotion eine Stelle am CalTech an und verbrachte ein Jahr mit der Jagd nach Meteoriten. Als das Jahr um war, bekam er eine Assistenzprofessur in Albuquerque und glaubte, daß er den Rest seines Lebens damit verbringen müßte, zukünftige Ölsucher zu unterrichten und im Sommer Arbeit im Gelände zu machen. Er war gerade in Kanada und untersuchte Astrobleme, die Narben uralter Meteoriteneinschläge, als das Marsprojekt seinen ersten Ruf nach Wissenschaftlern aussandte.

»Eine neue Welt«, sagte Joanna. »Haben Sie sich deshalb zum Training angemeldet?«

»Meine Eltern waren dagegen. Sogar mein Großvater hatte seine Zweifel. Aber ich mußte es versuchen, es riskieren. Ich wollte kein x-beliebiger Assistenzprofessor werden, der auf eine Festanstellung hinarbeitet. Wenn sie zum Mars flogen, dann nicht ohne …« — Jamie erkannte auf einmal, wo er war und womit er sich einverstanden erklärt hatte — »… ohne mich«, schloß er lahm.

Joanna legte ihre Hand auf seine. Eine kleine, weiche, frauliche Hand, blaß gegenüber der seinen, die von der jahrelangen Arbeit im Gelände aufgerauht und von der Sonne gegerbt war.

»Ich werde meinem Vater schreiben«, sagte sie leise. »Vielleicht kann er etwas tun.«

Jamie sagte nichts, aber er dachte trübsinnig, sie haben schon eine Halbindianerin im Team für den Mars. Da brauchen sie nicht auch noch eine männliche Ausgabe.

7

Es war kalt im Hubschrauber. Kalt und laut. Der große Chopper knatterte und schwankte im böigen Wind, der vom Gipfel des Mount Markham herabwehte. Jamie warf einen Blick aus dem Fenster in der ratternden, vibrierenden Frachtluke und sah die weite weiße Fläche des Gletschers, die sich unter ihnen erstreckte, ihm grelles Sonnenlicht in die Augen reflektierte und glitzerte, wo der Wind den Schnee zu riesigen Dünen aufgehäuft hatte.

»Etliche der Meteoriten, die in diesem Gebiet gefunden worden sind, kommen erwiesenermaßen vom Mond«, erklärte Hoffmann Joanna. Er brüllte, um sich über das Dröhnen der Turbinentriebwerke hinweg verständlich zu machen.

Sie saß auf dem mittleren Sitz, den Sicherheitsgurt straff über Schultern und Schoß geschnallt, die behandschuhten Hände zu festen kleinen Fäusten geballt, den Kopf Hoffmann zugewandt, so daß sie nicht in die trostlose Welt aus Eis unter ihnen hinausschauen mußte.