Hoffmann dozierte mit voller Lautstärke. Für jeden anderen hätte es wie der Gipfel der Arroganz geklungen, aber Jamie wußte, daß der Österreicher ebensoviel Angst hatte wie Joanna. Er redete, um nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren, erzählte Joanna jede kleine Einzelheit über die Meteoriten, die auf dem Gletscher gefunden worden waren.
Von mir, dachte Jamie säuerlich. Ich habe die verdammten Meteoriten gefunden. Davon sagt dieser Typ kein Wort.
»Hat man welche davon definitiv als Marsgestein identifiziert?« brüllte Joanna zurück.
»Nur zwei haben Vergleichen mit Steinen standgehalten, die von den unbemannten Sonden vom Mars mitgebracht worden sind«, schrie Hoffmann. »Und diese beiden hat man schon vor über zwanzig Jahren gefunden. Keiner der in letzter Zeit entdeckten Meteoriten hat sich als marsianischen Ursprungs erwiesen.«
»In den Oberflächenrissen einiger Steine, die anderswo in der Antarktis gefunden wurden, gibt es eine lebende Mikroflora«, rief Joanna und verlagerte das Thema auf ihr Fachgebiet, um die anstrengende Unterhaltung in Gang zu halten und nicht daran denken zu müssen, wie es sein würde, wenn sie auf dem Eis dort draußen allein waren.
»Ja, ich weiß«, erwiderte Hoffmann. »Ein Art Flechte, die sich vor dem Wind schützt, indem sie sich in den Oberflächenrissen ansiedelt.«
»Sie sind nahe genug an der Oberfläche, um Sonnenlicht für die Photosynthese aufzufangen.«
»Und sie nehmen auch Wärme aus dem Stein auf, wenn er von der Sonne aufgeheizt wird, nicht wahr?«
»Ja«, brüllte Joanna. »Wasser bekommen sie aus dem Eis, das die Steine überzieht.«
Jamie hörte das alles nicht zum ersten Mal. Und die beiden natürlich auch nicht. Er war jedoch bereits draußen auf dem Gletscher gewesen, sie aber nicht.
Der Hubschrauber landete in der Nähe der Stelle, die Hoffmann für die Suchaktion dieses Tages ausgewählt hatte, und hob dann in einem dröhnenden Wirbel aus Schnee- und Eispartikeln wieder ab, die den makellosen Himmel in ein Kaleidoskop funkelnder Regenbogenfarben verwandelten. Jamie sah zu, wie der Vogel im klaren Blau verschwand, bis das Geräusch seiner Turbinen im Brausen des Windes unterging, der vom Gletscher herabkam.
Zu dritt standen sie vor dem kristallklaren Himmel, angetan mit pelzgefütterten, elektrisch beheizten Kapuzenparkas, Überhosen, Gesichtsmasken und Brillen, dick gefütterten Handschuhen und schweren Stiefeln mit Spikes. Sie hatten langstielige Eispickel dabei, die zugleich als Gehstöcke dienten. Eine Palette mit Geräten, Verpflegung und einer Notfallausrüstung stand neben ihnen, auf glatte, teflonbeschichtete Gleitkufen montiert, die Eis ebenso leicht überqueren konnten wie Tiefschnee.
»Danach wird der Mars ein Klacks sein«, sagte Jamie. Es sollte aufmunternd klingen, aber es kam anders heraus.
Vier Stunden später stapften sie über das aufgebrochene, unebene Eis, wobei sie sich schwer auf ihre Eispickel stützten. Die beiden Männer zogen abwechselnd den Schlitten mit der Ausrüstung hinter sich her.
Der Wind brauste wie ein reißender Strom erbarmungslos den Gletscher herab, heulend wie die Inkarnation des Bösen. In ihren elektrisch beheizten Parkas und Überhosen kamen sie kaum voran; der brüllende Wind schüttelte sie durch und schlug wie eine wütende Bestie nach ihnen, die sie umwerfen und ihnen die Lebenswärme aussaugen wollte.
Trotz des beheizten Anzugs merkte Jamie, wie die Kälte an ihm zupfte und zerrte, wie sie ihre eisigen Finger unter seine Gesichtsmaske und die Kapuze des Parkas steckte, sich an seinen Handschuhen vorbei in seine Ärmel schlängelte. Die Luft war so kalt, daß Jaimies Nasengänge trotz der Vorheizung durch die Gesichtsmaske wund wurden. Jeder Atemzug schmerzte.
Es wäre besser, wenn wir die Raumanzüge benutzen könnten, dachte er. Dann wären wir von Kopf bis Fuß von ihren isolierten, harten Schalen umhüllt. Aber die Anzügen waren so schwer, daß man sie auf der Erde nicht tragen konnte.
Zum hundertsten Mal richtete Jamie sich auf und wischte sich mit einer behandschuhten Hand über seine zufrierende Brille. Die anderen beiden blieben stehen, wenn er es tat; sie waren mittlerweile verstummt und keuchten vor Anstrengung. Jamie sah die kleinen Dampfwolken, die aus ihren Masken hervorkamen. Es kostete einen Haufen Energie, bei einer solchen Kälte auch nur in Bewegung zu bleiben.
Seine beiden Schützlinge versuchten einfach nur, den Tag zu überstehen. Jamie dagegen suchte nach einem Stück vom Mars, das möglicherweise zur Erde gekommen war. Zeig mir einen dunklen Stein, Gletscher, flehte Jamie stumm. Nur einen. Einen, der vom Mars gekommen ist. Versteck ihn nicht vor mir. Laß ihn mich finden. Bald.
Er wußte, daß der Gletscher seine Geheimnisse tief in seinem eisigen Busen bewahrte. Hier draußen waren uralte Meteoriten versteckt, Brocken aus Stein und Metall, die vor Ewigkeiten vom Himmel gefallen waren und sich in den Schnee gegraben hatten. Doch hin und wieder arbeitete sich ein Stein an die Oberfläche vor. Jamie suchte das Eisfeld nach solch einem Meteoriten ab und betete, daß der Gletscher sich großzügig erweisen möge.
Verbirg deine Geheimnisse nicht vor mir, sagte er im stillen zu dem Gletscher. Zeig mir die Steine vom Mars. Sie gehören dir nicht; sei so nett und gib sie her.
Aber der Gletscher war so groß. Er war ein Fluß, der seit Jahrmillionen gefroren war, breiter und mächtiger als jeder Amazonas aus flüssigem Wasser. Er floß nur ein paar Zentimeter pro Tag, dennoch war er unerbittlich und unaufhaltsam auf seiner geduldigen Reise vom Gipfel des Mount Markham zur vierhundert Meter dicken Kruste des Ross-Eisschelfs hinunter.
Jamie war schon oft draußen auf dem Gletscher gewesen, aber eine solche Kälte hatte er noch nie erlebt. Trotz der Gesichtsmaske, der Brille und des beheizten Parkas betäubte sie der rauhe, tosende Wind bis auf die Knochen. Die kleine Joanna war schon viel langsamer geworden; sie schien kaum noch laufen zu können. Trotzdem — er wußte, wenn er den Hubschrauber rief, um sie alle evakuieren und zur Basis zurückbringen zu lassen, würden die Administratoren Notiz davon nehmen und es ihr ankreiden.
Hoffmann schien besser in Form zu sein, aber auch er hatte in der letzten Stunde kein einziges Wort mehr gesagt. Er und Jamie legten sich abwechselnd ins Zuggeschirr des Geräteschlittens, aber Jamie hatte den Eindruck, daß Hoffmanns Schichten immer kürzer wurden.
»Wie geht es euch?« rief er über den Wind hinweg.
Hoffmann nickte nur hinter seiner Maske und hob die Hand ein kleines Stück.
Joannas Stimme schwankte, als würde sie die Kontrolle darüber verlieren. »Mir … geht es … gut.« Er konnte sie bei dem Wind kaum hören.
»Ist Ihre Heizung auf maximale Leistung gestellt?«
»Ja … natürlich.«
Warum tue ich mir das an, fragte sich Jamie. Wozu quäle ich mich hier ab, obwohl ich sowieso nicht ins Missionsteam komme? Dann dachte er: Angenommen, ich rufe den Chopper und sage, daß Hoffmann nicht mehr genug Kraft hat, um weiterzumachen? Ich schiebe alles auf ihn.
Aber er wußte, daß er das nicht konnte. Er hatte nie gelernt, überzeugend zu lügen. »Geh bloß nicht in den Einzelhandel«, hatte ihm sein Großvater Al oft erklärt. »Und pokere nie mit Fremden. Beziehungsweise mit überhaupt keinem. Man sieht dir immer am Gesicht an, was du denkst, Jamie. Du bist mir vielleicht eine Rothaut!«
Bei Joanna lag die Sache anders. Die Tochter von Alberto Brumado mußte das Training bestehen. Sie mußte zum ersten Team gehören, da waren sich alle einig. Aber warum muß ich mich halb umbringen, um ihr zu helfen, zum Mars zu gelangen?
Vielleicht mehr als nur halb umbringen, dachte er nüchtern. Der Himmel, der so klar ausgesehen hatte wie eine eisblaue Kristallglasschüssel, nahm allmählich eine bedrohliche, milchig-weiße Färbung an. Der Berggipfel war bereits in wogendem Nebel verborgen. Jamie spähte mit zusammengekniffenen Augen durch seine Brillengläser und war sicher, daß er Schneefahnen sah, die über den breiten, zerklüfteten Highway des Gletschers auf sie zukamen.