»Sicher«, sagte er, »ich verstehe.«
Sie sprach nicht mehr davon, ihren Vater anzurufen. Sie machte sich keine Gedanken mehr über Ungerechtigkeiten oder darüber, daß sie Alberto Brumados Schachfigur war. Und es hat keinen Sinn, daß sie etwas mit einem Burschen anfängt, der nicht ins Team kommen wird, sagte sich Jamie im stillen.
»Ich muß jetzt ins Labor«, erklärte Joanna.
Er trat beiseite und ließ sie vorbei, ging dann in den schmalen Flur hinaus und sah ihr nach, als sie zum Labor eilte.
Beim Abendessen im vollen Speisesaal hielt Joanna Abstand von ihm. Als die anderen ihn dazu beglückwünschten, daß er einen Stein vom Mars gefunden hatte, der tatsächlich eine Spur organischer Stoffe enthielt, murmelte Jamie ein Dankeschön in sich hinein und erklärte ihnen, er habe Glück gehabt.
»Ihnen ist natürlich klar«, sagte Hoffmann, der Jamie am Tisch gegenübersaß, »daß ich die weitere Untersuchung des Meteoriten vornehmen werde, da ich der offizielle Geologe in dieser Gruppe bin und Sie uns lediglich als Führer zugeteilt sind. Für die geologischen Untersuchungen bin ich jetzt allein zuständig, nicht Sie.«
Totenstille machte sich am Tisch breit. Jamie starrte dem Österreicher in die Augen und sah tief unter der arroganten Oberfläche eine Art Flehen, wie bei einem Ertrinkenden, der verzweifelt eine Hand nach Hilfe ausstreckt.
»Ich dachte, wir würden dabei zusammenarbeiten«, sagte er verkniffen.
»Sie können mir natürlich gern helfen«, erwiderte Hoffmann.
Jamie nickte kurz, stand auf und verließ den Speisesaal. Geh weg, bevor du noch etwas zerbrichst. Geh allein, wie ein verwundeter Cojote. Er eilte durch den matt erleuchteten Flur zu seinem Zimmer zurück, warf sich voll angekleidet auf sein Bett und kam sich wie ein ausgemachter Narr vor, während der Blizzard draußen vor der zugeschneiten Basis weitertobte.
9
»Ich muß mit Ihnen sprechen. Privat. In Ihrer offiziellen Eigenschaft.« Joannas Stimme zitterte.
Antony Reed blickte vom Computerbildschirm auf. Sie stand in der Tür des Krankenreviers und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Kommen Sie rein«, sagte er und erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. »Schließen Sie die Tür und setzen Sie sich.«
Joanna war beinahe formell gekleidet, wenn man die laxen Maßstäbe der Basis zugrunde legte: Sie trug eine klassische weiße Bluse und eine enganliegende Whipcord-Jeans, die ihre Figur betonten. Sie nahm angespannt auf dem Holzstuhl vor dem Schreibtisch Platz und nagte an der Unterlippe.
»Ich versichere Ihnen, daß alles, was Sie mir erzählen, ganz und gar unter uns bleibt«, sagte Reed und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. Dieser knarrte ein wenig.
Sie war furchtbar aufgeregt, das sah er. Nervös und ängstlich. Ihm wurde klar, daß Hoffmann sich endlich an sie herangemacht hatte. Der Österreicher hatte den Köder geschluckt.
»Was ich zu sagen habe, könnte Auswirkungen auf unsere Arbeit haben, und auch darauf, welche Personen für die Mission ausgewählt werden«, sagte Joanna.
Reed bemühte sich, keine Miene zu verziehen.
»Ich brauche Ihr Versprechen, daß Sie nichts von dem, was ich Ihnen erzähle, an die Administratoren des Projekts weitergeben.«
Reed beugte sich vor, legte die Unterarme auf den Schreibtisch und sagte mit seiner ganzen professionellen Ernsthaftigkeit: »Wenn das, was Sie mir erzählen wollen, tatsächlich schwerwiegende Auswirkungen auf die Mission hat, dann bringen Sie mich in ein Dilemma.«
Sie nickte und holte tief Luft. Reed bewunderte die Art, wie sich ihre Bluse bewegte, obwohl sie bis zum Hals zugeknöpft war.
»Ich muß die Möglichkeit haben, vertraulich mit Ihnen zu sprechen«, sagte sie. »Wenn ich fertig bin, können wir entscheiden, was wichtig für die Mission und was rein persönlich ist. Sind Sie damit einverstanden?« Ihre Stimme klang beinahe flehend.
Reed lehnte sich in den ächzenden Stuhl zurück und sagte leichthin: »Ja, ja, natürlich. Das ist in Ordnung. Ich möchte, daß Sie sich völlig frei fühlen, offen zu sprechen.«
Joanna starrte den Computer auf dem Schreibtisch an. Reed lächelte, langte hinüber und schaltete ihn aus.
»Also dann«, sagte er, »was haben Sie auf dem Herzen?«
Sie zögerte. Dann sagte sie: »Ein … ein bestimmtes Mitglied der Gruppe …« Sie verstummte.
Reed wartete einen Augenblick lang, dann half er nach: »Ein Mitglied der Gruppe hat was getan? Sie beleidigt? Sie angegriffen? Was?«
Ihre Augen wurden groß. »Oh, nichts dergleichen!«
»Wirklich nicht?«
Sie wirkte beinahe erleichtert. »Einer der Männer hat Annäherungsversuche gemacht, aber das war kein Problem. Wir haben alle gelernt, wie wir damit fertigwerden.«
»Wir?«
»Alle Frauen in der Gruppe.«
»Wollen Sie damit sagen, daß manche Männer in der Gruppe Ihnen Avancen machen?« fragte Reed.
Joanna lächelte. »Natürlich tun sie das. Damit werden wir schon fertig. Das ist kein Problem.«
»Die Männer werden nicht zudringlich? Sie bedrohen Sie nicht?«
Sie tat diesen Gedanken mit einem kleinen, femininen Achselzucken ab. »Es gibt nur einen, der sich zu einer richtigen Plage entwickelt.«
»Doktor Hoffmann«, soufflierte Reed.
»Woher wissen Sie das?«
»Hat Hoffmann Sie belästigt?«
»Er hat es versucht. Anfangs war ich ein wenig besorgt; er schien nicht lockerlassen zu wollen.«
»Und?«
»Ich habe gelernt, mit ihm fertigzuwerden. Wir Frauen helfen einander, wissen Sie.«
Reed unterdrückte ein Stirnrunzeln. »Was ist dann Ihre Sorge?«
Joannas leises Lächeln erlosch. Sie machte wieder ein bekümmertes Gesicht und ließ den Blick durch den Raum schweifen, bevor sie schließlich sagte: »Es ist Doktor Waterman.«
»Jamie?«
»Er hat auf seine Chance verzichtet, an der Mission teilzunehmen, um mir zu helfen.«
»Soweit ich weiß«, sagte Reed steif, »hat er sich nicht freiwillig dafür gemeldet. Doktor Li hat es ihm befohlen.«
»Ja, ich weiß«, sagte Joanna. »Aber trotzdem — er ist sehr nett, sehr hilfsbereit. Unter anderen Umständen …«
»Guter Gott, junge Dame, Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie sich in ihn verliebt haben!« Reed war entgeistert.
»Nein, nein, natürlich nicht«, antwortete sie zu hastig. »Wir sind ja erst seit ein paar Tagen zusammen. Aber …« Sie verstummte wieder und wandte den Blick von Reed ab.
Tony merkte, daß eine rätselhafte Verwirrung in seinem Innern brodelte. »Es wäre außerordentlich unklug, sich emotional mit einem Mann einzulassen, den Sie wahrscheinlich nie wiedersehen werden, nachdem Ihr Aufenthalt hier in McMurdo beendet ist«, sagte er.
»Ich weiß. Das ist mir klar.«
»Was belastet Sie dann?«
»Ich habe furchtbare Schuldgefühle, weil er meinetwegen auf seine Chance verzichtet, zum Mars fliegen zu können.«
»Ich verstehe.« Reed entspannte sich, lehnte sich wieder zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Selbstverständlich empfinden Sie so. Das ist eine vollkommen natürliche Reaktion.«
»Was soll ich tun?«
Er breitete vage die Hände aus. »Tun? Da können Sie gar nichts tun. Die Entscheidung, daß Waterman hierbleiben sollte, ist nicht von Ihnen getroffen worden; Sie sind nicht verantwortlich für sein Schicksal.«
»O doch, das bin ich! Verstehen Sie das nicht?«
Reed zeigte auf den Computerbildschirm, lächelte und sagte in seinem überzeugendsten Ton ärztlicher Autorität: »Meine liebe junge Dame, Waterman ist ausgesucht worden, Ihnen zu helfen — und den anderen, sollte ich vielleicht hinzufügen —, weil Li und die Auswahlkommission längst entschieden haben, daß er nicht zum Marsteam gehören wird. Haben Sie auch nur einen Moment lang geglaubt, die würden jemanden, der bereits für den Mars vorgesehen war, von der Liste streichen, nur damit er Ihnen hier hilft? Nein. Gewiß nicht. Watermans Schicksal war bereits entschieden. Sie hatten nichts damit zu tun.«