Выбрать главу

Die Ingenieure hatten sämtliche physischen Probleme der Marsmission vorausgesehen, die Bedenken der Psychologen jedoch bewußt ignoriert. Nein, sie waren vielmehr über all diese Bedenken hinweggegangen, indem sie den Psychologen befahlen, ›ausgeglichene‹ Personen auszuwählen, die selbst unter den Druckkochtopfbedingungen dieser Mission stabil blieben. Li wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Unter diesen Bedingungen stabil bleiben! Wie soll man stabil bleiben, wenn man nahezu zwei Jahre lang auf Sex verzichten muß? Die Mission hätte von Polynesiern geplant werden sollen statt von Russen und Amerikanern, den beiden prüdesten Völkern der Welt.

Und jetzt hat dieser Indianer mit seinen törichten Worten seine Regierung aufgebracht. Damit hat keiner von uns gerechnet.

Zumindest war das Schiff jetzt nicht mehr ganz so überfüllt, nachdem die Hälfte der Besatzung zum Mars abgestiegen war. Li lehnte sich in seinen weichen, nachgiebigen Stuhl zurück. Aus dem Augenwinkel sah er die rötliche Rundung des Mars vor dem runden Fenster seiner Kabine vorbeiziehen. Die Mars 2 war in ihrer Umlaufbahn nach wie vor durch ein Raumseil mit ihrem Zwillingsschiff verbunden, der fünf Kilometer entfernten Mars 1, und die beiden Schiffe rotierten immer noch um ihr gemeinsames Zentrum, um eine annähernde Marsschwerkraft aufrechtzuerhalten. Falls es notwendig sein sollte, einen Ersatzmann oder eine Ersatzfrau zur Oberfläche hinunterzuschicken, konnte er oder sie sofort gehen. Sie waren alle an die Marsschwerkraft akklimatisiert.

Li war froh, daß sie auf ihrer langen Reise nicht für längere Zeit in der Schwerelosigkeit leben mußten. Ihm wurde dabei immer schlecht; allein schon beim Gedanken an endlose Monate in der Schwerelosigkeit wurde ihm flau im Magen.

Mit einem schweren Seufzer schob er seinen Stuhl von der Kommunikationskonsole zurück und stand auf, fast zwei Meter groß, dünn wie ein Besenstiel. Der fest zugeknöpfte Kragen seines Overalls stieß gegen die alte Narbe an seinem Hals, eine Erinnerung an die Unruhen während seiner Studentenzeit in Shanghai. Der einzige Schmuck an dem olivbraunen Kleidungsstück waren sein Namenszug auf der linken Brustseite und die Schulterklappe der ersten Marsexpedition.

Wie albern, daß sich die Amerikaner über ein paar Worte aufregen, dachte er. Aber sie haben ihre Probleme mit den Indianern niemals ganz gelöst. Li runzelte die Stirn. Nein, sie nennen sie nicht mehr Indianer’. Amerikanische Ureinwohner? Amerinds? Worte sind wichtig, erkannte er, erst recht bei einem Volk, das von seinen Medien regiert wird.

Als Kommandant der ersten Marsexpedition hatte Li Chengdu uneingeschränkte Macht und zugleich auch uneingeschränkte Verantwortung. Zwei Dutzend Menschen waren ihm anvertraut, ihr Leben lag in seinen Händen. Die Hälfte von ihnen — jene Hälfte, die er beneidete — war unten auf dem Boden des Mars. Waterman war nicht die erste Wahl unter den Geologen gewesen, nicht einmal die zweite. Aber der junge Mann ist dort unten auf der Oberfläche des Mars; sein Tao ist so mächtig, daß es die Wege aller anderen formt und verwandelt, die mit ihm in Berührung kommen, selbst den meinen.

Wir alle, die wir hier oben im Orbit geblieben sind, wir halten uns insgeheim für zweitklassig. Wir haben hier oben wichtige Aufgaben zu erfüllen, aber mit Ausnahme der wenigen, die die winzigen Monde erkunden werden, würden die Wissenschaftler hier mit Freuden Morde begehen, wenn sie dadurch die Chance bekämen, einen der Männer oder eine der Frauen unten auf dem Planeten zu ersetzen.

Ich bin melodramatisch, seufzte er in sich hinein. Das sind alles erwachsene Menschen, die gesündesten und stabilsten Männer und Frauen aus den Tausenden, die bei dieser Expedition dabeisein wollten. Die Besten der Besten. Natürlich haben sie ihre Probleme. Wir alle sind mit Belastungen und emotionalen Spannungen konfrontiert. Es wäre töricht, etwas anderes zu erwarten. Meine Aufgabe besteht darin, diese Probleme beizulegen und dafür zu sorgen, daß sie uns bei der Erfüllung unserer Mission nicht in die Quere kommen.

Aber wie gesund und stabil war es, daß dieser Amerikaner in Navajo zu den Medien der Welt gesprochen hat? Wie gesund und stabil ist es, wenn jemand zu einer anderen Welt fliegen, sein Leben für den Nervenkitzel riskieren will, den Fuß dorthin zu setzen, wo vor ihm noch niemand gewesen ist?

Ach, sagte sich Li, vielleicht ist das eine Form von göttlichem Wahnsinn. Das Menschentier ist und war stets ein Forscher, ein Wanderer. Die Vorfahren des jungen Waterman wären niemals von Asien nach Amerika gekommen, wenn es nicht so wäre.

Mit zwei Dutzend solchen wandernden Seelen fertigzuwerden und gleichzeitig ihre Aufseher auf der Erde zu besänftigen — das erfordert die Geduld eines Konfuzius, die Intelligenz eines Einstein und die List eines Machiavelli. Ich bin keiner von ihnen.

Doch was diese jungen Männer und Frauen angeht, was die Flugkontrolle in Kaliningrad und Houston angeht, bin ich all das und mehr. Und diesen Eindruck muß ich auch weiterhin bei ihnen erwecken — wenn auch aus keinem anderen Grund, als um sie vor ihren Politikern auf der Erde zu beschützen. Selbst wenn ich mich wirklich gern an diese schlanke junge Blondine heranmachen würde, die für die Kartographie-Kameras zuständig ist. Was für ein verführerisches Lächeln sie hat!

Li seufzte schwer. Verdammt anstrengend, ein Weiser zu sein.

SOL 2

ABEND

»Toshima«, verbesserte der Japaner. »Nicht Toshima

Jamie nahm mit einer kleinen, unbewußten Verbeugung zur Kenntnis, wie man den Namen des Meteorologen aussprach. Toshimas Stimme war sanft, und er lächelte beim Sprechen, aber es war klar, daß er seinen Namen auf seine Weise ausgesprochen haben wollte. Er wirkte groß für einen Japaner: etwas größer als Jamie selbst, stämmig und mit einem runden, flachen Gesicht.

Die Messe war fast schon überfüllt, wenn sie alle zwölf beisammen saßen. Sie hatten die drei Tische zusammengeschoben und feierten nach einem langen Tag, an dem sie Vorräte und Ausrüstung entladen hatten, mit einem festlichen Dinner.

Wosnesenski und der zweite Russe, Mironow, saßen Schulter an Schulter an einem Ende des Tisches, zwei gedrungene Hydranten in grauen Overalls. Links von den Russen schlossen sich die amerikanischen Astronauten an, Connors und Paul Abell. Die drei Frauen saßen den Amerikanern gegenüber, und die anderen Wissenschaftler hatten um den restlichen Tisch herum Platz genommen.

Nachdem sie mit dem Entladen des zweiten L/AV fertig gewesen waren, hatte Jamie über eine Stunde seiner freien Zeit damit verbracht, ein paar beschwichtigende Zeilen für Houston abzufassen. Er hatte sich so genau an Lis Worte gehalten, wie er sie in Erinnerung hatte: »Ich wurde von Gefühlen überwältigt, als ich den Boden des Mars betrat, und verfiel in die Sprache meiner Vorfahren.« Das müßte die blöden Hurensöhne zufriedenstellen, dachte er, als er seine Entschuldigung zu dem über ihnen kreisenden Raumschiff hinaufschickte.

Jetzt saß er an dem improvisierten Eßtisch, flankiert von Seiji Toshima auf der einen und Tony Reed auf der anderen Seite.

»Ich habe mich gefragt, weshalb die Japaner nicht schon im ersten Team vertreten waren«, sinnierte Reed, während er in seinen vorgekochten Rindfleischstreifen herumstocherte. »Schließlich wären wir ohne Japans Geld und Elektronik nie im Leben hierher gekommen.«

Toshima blickte von seinem Reis mit Fisch auf und sah den Engländer an. »Diese Entscheidungen sind von den Politikern getroffen worden. Japan ist nicht so stolz; ein Unterschied von einem Tag macht nichts aus. Es genügt uns, daß wir an dieser Expedition beteiligt sind.«

Reed zwinkerte Jamie zu und zog Toshima weiter auf: »Ja, aber immerhin — selbst Israel und Brasilien waren vor Japan vertreten.«