»Und sogar England«, sagte Toshima dünn.
»Ja, aber England vertritt die Europäische Gemeinschaft«, konterte Reed.
Toshima verbeugte sich leicht.
»Und dann sind da natürlich auch noch die Navajo-Indianer«, fuhr Reed liebenswürdig fort.
Jamie legte seine Plastikgabel hin. »Tony, Sie wissen so gut wie jeder andere hier, daß die endgültigen Entscheidungen darüber, wer an Bord welches Schiffes gehen sollte, die Reihenfolge der Landungen festgelegt haben. Warum reiten Sie darauf herum?«
»In der Tat«, sagte Toshima, »es reicht uns, daß wir hier sind, ganz gleich, in welcher Stunde jeder von uns den ersten Stiefelabdruck im Boden hinterlassen hat.«
Reed nickte gnädig und strich die störrische sandfarbene Locke zurück, die ihm in die Stirn fiel. »Ich akzeptiere Ihre überlegene Weisheit. Entschuldigen Sie bitte meine englische Spiegelfechterei.«
Er knüpfte ein Gespräch mit dem Nachbarn zu seiner Linken an, und Toshima begann eine Unterhaltung mit dem ägyptischen Geophysiker zu seiner Rechten, so daß Jamie allein übrigblieb. Er wünschte, auf der Mikrowellenschale vor ihm läge ein Burrito oder auch nur ein Supermarkt-Taco. Seit seiner Abreise aus Houston vor über zehn Monaten hatte er nichts Anständiges mehr zu essen bekommen. Die Ernährungsspezialisten, von denen der Speiseplan für diese Expedition stammte, hatten großes Augenmerk auf die unterschiedlichen nationalen Geschmäcker der Marsforscher gelegt — jedenfalls ihrer Ansicht nach. Jamie aß ihre Version der italienischen Mahlzeiten, die für Pater DiNardo zubereitet worden waren: Sojabohnen-Paste, die sich bemühte, wie Kalbsschnitzel auszusehen; Spaghetti, die es wundersamerweise schafften, trocken und matschig zugleich zu sein. Und es schmeckte alles so fade! DiNardos verdammte Gallenblasenprobleme hatten Gewürze offenbar ausgeschlossen. Das kommt davon, wenn man den Platz eines anderen einnimmt, sagte sich Jamie. Iß DiNardos Mahlzeiten und sei dankbar, daß du an seiner Stelle hier bist.
Er warf einen Blick zu den drei Frauen hinüber, die sich miteinander unterhielten. Ilonas patrizisches Gesicht war lebendig, sie lächelte beim Sprechen und gestikulierte wie wild mit den Händen. Die kleine Joanna schaute beinahe ernst drein, als hörte sie schlechte Neuigkeiten. Die andere Frau, Monique Bonnet, nickte im Rhythmus zu Ilonas Gesten.
Monique Bonnet war sehr klein, sogar noch kleiner als Joanna, aber so plump wie eine provenzalische Matrone. Sie war älter als die anderen beiden, ihr dichtes dunkles Haar war grau gesprenkelt, und sie hatte Lachfalten in den Augenwinkeln. Ihr Gesicht war rund, und in den geröteten Wangen zeigten sich Grübchen, wenn sie lächelte. Sie muß eine Schönheit gewesen sein, als sie jünger war, dachte Jamie. Und dünner.
Nach den Missionsvorschriften war Alkohol streng verboten. Daher hatte natürlich jedes männliche und weibliche Mitglied der Expedition ein oder zwei Flaschen unter seinen persönlichen Sachen an Bord geschmuggelt. Nur Jamie, der erst in letzter Minute ins Team gekommen und unerwartet von seiner Unterkunft in Houston zum Startzentrum in Florida geflogen worden war, hatte nicht mehr die Zeit gehabt, auch nur eine Dose Bier zu kaufen, zu leihen oder zu stehlen.
Wosnesenski klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch, so daß dieser gefährlich klapperte.
»Ich möchte klarstellen«, sagte er beinahe knurrend, »daß dies der letzte Anlaß ist, bei dem Alkohol geduldet wird.«
Stöhnen und Murren am Tisch.
»Wir haben viel Arbeit zu erledigen und nur wenig Zeit. Alkohol ist strikt verboten; er könnte ein Sicherheitsrisiko darstellen.«
Wosnesenski gab einfach nur die Missionsvorschriften wieder, aber keiner war sonderlich begeistert darüber.
»Da dies jedoch der erste Abend ist, an dem wir alle zwölf auf dem Mars sind«, sagte er und stand auf, »möchte ich einen Toast ausbringen.«
Seufzer der Erleichterung und grinsende Gesichter am Tisch. Sieben Männer und die drei Frauen hoben Gläser mit Whiskey, Wodka, Brandy, Wein und Sake hoch. Jamie hob sein Glas Wasser und stellte fest, daß das Zeug in Wosnesenskis Glas — was immer es sein mochte — ebenfalls klar war.
»Wir haben eine schwierige Zeit hinter uns«, sagte Wosnesenksi. Seine grobes Gesicht war völlig ernst. Mit einem Blick zu Ilona Malater fuhr er fort: »In den neun Monaten an Bord des Raumschiffes haben sich gewisse Spannungen, gewisse Probleme aufgebaut.«
»Wenigstens ist niemand schwanger geworden«, flüsterte Tony Reed laut genug, um ein paar Lacher zu ernten.
Wosnesenski funkelte ihn an. »Morgen beginnt unsere eigentliche Arbeit: die Eroberung des Mars.«
Eroberung? Vor Jamies geistigem Auge blitzten Bilder von der Eroberung Amerikas durch den weißen Mann auf. Dazu sind wir nicht hier. Niemand wird den Mars erobern.
»Die nächsten sieben Wochen werden eine harte Prüfung für uns sein«, fuhr Wosnesenski fort. »Täuschen Sie sich da nicht. Jeder von uns wird bis an seine Grenzen belastet werden. Die Männer wie die Frauen. Der Mars wird für uns alle ein Test sein.«
»Unsere Arme werden müde, Mikhail Andrejewitsch«, witzelte Mironow grinsend. »Ist das ein Toast oder eine Ansprache?«
Wosnesenski lächelte nicht. Mit vollkommen ernster Miene hob er sein Glas noch höher und sagte: »Möge jeder von uns auf dem Mars das finden, was er sucht.«
»So wasche Sdarowje!« rief Mironow aus.
»Sdarowje«, erwiderte Wosnesenski.
Sie tranken alle. Jamies Wasser schmeckte schal und steril.
»Ich frage mich nur, was ein jeder von uns sucht«, rief Tony Reed an seinem Ende des Tisches.
»Gute Frage«, sagte Abell, der amerikanische Astronaut, mit einem Grinsen, das sein Gesicht vom Kinn bis zum Haaransatz in Falten legte. Er erinnerte Jamie an einen Frosch: vorquellende Augen, runde Wangen und ein breiter, grinsender Schlitz von einem Mund.
»Ich zum Beispiel würde gern ein paar hübsche Marsfrauen finden, die seit tausend Jahren oder so keinen Mann mehr gehabt haben.«
Ein paar tolerante Gluckser von den Wissenschaftlern. Ilona warf ihm einen glutvollen Blick zu.
»Nein, im Ernst«, sagte Reed. »Ich wüßte wirklich gern, was jeder von uns auf dem Mars zu finden hofft.«
Tony nimmt seine Aufgabe als Teampsychologe zu ernst, grummelte Jamie in sich hinein.
»Ich persönlich wünsche mir nur«, sagte Wosnesenski und legte sich eine Hand mit Wurstfingern an die breite Brust, »daß wir harmonisch zusammenarbeiten und daß niemand verletzt wird, so daß wir alle glücklich nach Hause zurückkehren.«
Mironow fügte mit einem hörbaren Flüstern hinzu: »Und daß du auch auf der Erde nur dreißig Kilo wiegen würdest!«
»Ich freue mich schon darauf, den Schwebegleiter zu fliegen«, sagte Pete Connors mit seiner volltönenden Karamelstimme.
»Ich wünsche mir sehr, den großen Olympus Mons mit eigenen Augen zu sehen«, sagte Ravavishnu Patel, der indische Geologe.
»Den Berg Olymp, den größten Vulkan im Sonnensystem«, pflichtete ihm Abdul al-Naguib bei, der ägyptische Geophysiker.
»Ich möchte beweisen, daß es unter der Oberfläche ein Meer aus ewigem Eis gibt«, sagte Ilona Malater. »Der Theorie zufolge ist es vorhanden, aber ich will es selber finden und seine Größe vermessen.«
»Leben.«
Joanna Brumado sagte nur das eine Wort, und alle anderen Gespräche verstummten. Jeder drehte sich zu ihr um. Sie schaute peinlich berührt drein. Ihr herzförmiges Gesicht wurde ein bißchen rot.
»Natürlich, Leben«, sagte Monique Bonnet, die neben ihr saß. »Joanna hat recht. Das Erstaunlichste, was wir auf dieser Welt finden könnten, wäre Leben.«
Nein, verbesserte Jamie im stillen. Das Erstaunlichste, was wir finden könnten, wäre intelligentes Leben. Oder dessen Überreste.