LEBEN
Die Alten lehrten, daß Wunder gar nicht so selten sind. Die Welt ist voll von ihnen.
Leben ist ein so normales Wunder, daß es überall entstehen kann, wo es Wasser und Sonnenlicht gibt. Selbst in der Wüste wimmelt es von Leben, solange nur ein bißchen Wasser und natürlich Sonnenlicht vorhanden sind.
Ist auf der roten Welt Leben entstanden? Haben der Menschenmacher und die anderen Götter der Schöpfung dort ihr Werk begonnen? Falls ja, so ist das Leben dort möglicherweise früher entstanden als auf der blauen Welt, weil das Gestein in der Kruste der roten Welt eher abgekühlt war als jenes der größeren, wärmeren blauen Welt. In den flachen Meeren überall auf der Oberfläche der roten Welt hätte das Leben Gestalt annehmen und sich zu reproduzieren beginnen können. Es wäre schwierig gewesen, weil die rote Welt immer schon kälter war als die blaue. Das Wasser wäre oftmals gefroren, und die Lebewesen darin wären gestorben oder in einen langen Winterschlaf verfallen, der dem Tod sehr, sehr nahegekommen wäre. Trotzdem, das Leben gibt nicht so leicht auf.
Die Alten lehrten, daß diese unsere blaue Welt nicht die erste ist, auf der das Volk lebte. Unsere Lieder vom Anfang berichten davon, wie der Erste Mann und die Erste Frau sich von einer Welt zur nächsten hochkämpften, aus einer Welt der Dunkelheit und Kälte zu einer roten Welt, wo das Große Wasserwesen sie in tobenden Fluten zu ertränken versuchte, weil Cojote seine kleinen Wasserkinder gestohlen hatte. Schließlich erklommen sie die vierte Welt und traten ins goldene Sonnenlicht hier im Mittelpunkt des Universums heraus, in den Bergen, welche die vier Ecken des Daseins bezeichnen.
Der Erste Mann und die Erste Frau kamen nicht allein. Sie brachten die Pflanzen und die Tiere und alle guten Dinge mit. Und noch jemand begleitete sie: Cojote, der Listenreiche. Cojote, die Macht des Chaos. Cojote, der dem Volk bei dessen Suche nach Ordnung, Harmonie und Schönheit immer aufs neue Steine in den Weg legte.
DER ENTSCHEIDUNGSPROZESS
1
Jamie war in Galveston, als die lange erwartete, lange gefürchtete endgültige Entscheidung rückgängig gemacht wurde.
Seit Anbeginn seiner Mitarbeit im Marsprojekt war Houston für ihn so sehr ein Zuhause gewesen, wie er es nur verlangen konnte. Auch wenn er manchmal mehrere Monate hintereinander an Trainingsorten überall auf dem Erdball verbracht hatte, fast ein halbes Jahr in der Antarktis, Woche um Woche in Florida und sogar mehrere Wochen an Bord von Raumstationen in der Erdumlaufbahn, immer kehrte er nach Houston zurück. Und zu Edith.
Edie Elgin war Co-Moderatorin der Sieben-Uhr-und Elf-Uhr-Nachrichten bei KHTV in Houston. Sie hatte Jamie interviewt, als er ans Johnson Space Center gekommen war. Aus einer Einladung zum Essen wurde eine Beziehung, die bestenfalls für eine bestimmte Zeit bestehen würde, wie beide wußten.
»Ich verschwende nicht mal einen Gedanken ans Heiraten«, erklärte Edie ihm oft. »Das tue ich frühestens, wenn ich’s nach New York geschafft und da einen Job bei einem der Networks gekriegt habe. Vielleicht nicht mal dann.«
»Ich weiß nicht, wo ich in einem Jahr sein werde«, sagte Jamie regelmäßig zu ihr. »Wenn ich nicht ins Marsteam komme, gehe ich wahrscheinlich nach Kalifornien zurück und unterrichte an irgendeiner Uni.«
»Keine Verpflichtungen«, sagte sie immer.
»Wir können keine eingehen, selbst wenn wir’s wollten«, erwiderte er stets.
Aber jedesmal, wenn er nach Houston zurückkam, kam er zu ihr zurück. Und obwohl sie nie darüber sprach, wie sie die Zeit verbrachte, wenn er nicht da war, schien sie immer froh zu sein, Jamie zu sehen. Sie waren ein seltsames Paar: der dunkelhaarige, schweigsame, stämmige Halb-Navajo und die blonde, lebhafte, stets lächelnde TV-Moderatorin. Sie wurde natürlich überall erkannt, wohin sie auch ging. Und obwohl jeder, der fernsah, sie als Edie kannte, war sie für Jamie immer Edith.
Sie behauptete, eine echte Blondine und hundertprozentige Texanerin zu sein, ehemals Cheerleader in der Highschool und Schönheitskönigin an der Texas A&M University, wo sie Fernsehjournalismus studiert hatte. Sie konnte nicht sehr gut schreiben, dafür aber mit perfekten Zähnen lächeln, selbst wenn sie ein katastrophales Erdbeben oder einen Flugzeugabsturz bekanntgab. Hinter dem hübschen Lächeln steckte jedoch ein kluger Kopf; sie erkannte eine Gelegenheit, wenn sie sich bot, und sie war schlau genug, sich in Gesellschaft von jedem, der auch nur entfernt mit der Nachrichtenbranche zu tun hatte, niemals eine Blöße zu geben. Bei Jamie konnte sie jedoch ernst sein und ihm von ihren Karriereplänen erzählen. Er konnte sich bei ihr entspannen und das Training, den Mars und die Männer vergessen, die zwischen ihm und der heiß ersehnten Berufung standen.
Jamie war soeben nach drei Wochen an Bord der Mir 5 zurückgekommen, wo er mit Pater DiNardo an den Steinproben vom Mars gearbeitet hatte, die von den unbemannten Schiffen, die schon vor einiger Zeit auf dem roten Planeten gelandet waren, mitgebracht worden waren.
Er hatte geglaubt, DiNardo hätte die Befugnis, die endgültige Entscheidung darüber zu treffen, wer sein Ersatzmann bei der Marsmission sein würde. Der Jesuit kurierte ihn von dieser Idee, kurz bevor Jamie an Bord der Raumfähre gehen mußte, die ihn nach Florida zurückbringen würde.
DiNardo hatte ihn gebeten, ins Geologielabor zu kommen, bevor er die Raumfähre bestieg. Der Priester wartete dort auf ihn. Mit ernster Miene hing er schwerelos ein paar Zentimeter über dem metallenen Gitterrost des Laborbodens. Sein Gesicht war derart verquollen von der Flüssigkeitsverlagerung, die bei weitgehender Schwerelosigkeit eintritt, daß er einem Indianer ähnlicher sah als Jamie selbst. DiNardo rasierte sich seinen kahl werdenden Schädel, aber an seinem vorspringenden Kinn zeigten sich noch dunkle Stoppeln.
»Die Auswahlkommission hat ihre Entscheidung getroffen«, sagte DiNardo leise, mit einer ganz schwachen Spur eines italienischen Akzents am Ende jedes Wortes. Jamie merkte am Ton des Mannes, daß er schlechte Neuigkeiten hatte.
Sie waren allein im Geologielabor der Raumstation, hingen schwerelos in der affenartigen, halb zusammengekauerten Haltung in der Luft, die der menschliche Körper bei minimaler Schwerkraft normalerweise einnimmt. Ein sorgfältig verschlossener Glasschrank hinter DiNardo enthielt mehrere Reihen rötlicher Bodenproben und kleiner rosafarbener Steine von der Oberfläche des Mars. Jamie fühlte, wie ihm flau im Magen wurde.
»Leider ist die Wahl auf Professor Hoffmann gefallen«, fuhr DiNardo leise fort.
»Und Sie sind einverstanden?« hörte Jamie sich fragen. Seine Stimme klang rauh, angespannt wie eine Bogensehne kurz vor dem Zerreißen.
»Ich werde mich der Entscheidung nicht widersetzen.« DiNardo schenkte ihm ein trauriges kleines Lächeln. »Mir persönlich wäre es lieber, wenn Sie mitfliegen würden. Ich denke, wir würden viel besser miteinander auskommen. Aber die Auswahlkommission muß politische Erwägungen und viele andere Faktoren einbeziehen. Falls es Ihnen hilft, es war die schwierigste Entscheidung, die sie zu treffen hatten.«
»Und sie ist endgültig.«
»Ich fürchte ja. Professor Hoffmann wird der zweite Geologe bei der Mission sein. Er bleibt in dem Raumschiff im Marsorbit, und ich gehe auf die Oberfläche hinunter.«
Ihr könnt mich alle beide mal, wollte Jamie sagen. Statt dessen nickte er nur. Seine Lippen waren so fest zusammengepreßt, daß er eine Stunde später immer noch spürte, wo sich seine Zähne hineingedrückt hatten.
Von Cape Canaveral war Jamie sofort nach Houston geflogen, und von dort waren er und Edith in deren neuem, schnittigem, dunkelgrünem Jaguar nach Galveston gefahren. In ihren enganliegenden Jeans, der Seidenbluse mit den engen Manschetten und der Rennfahrer-Sonnenbrille sah sie wie ein Filmstar aus, erst recht, wenn ihre blonden Haare im Wind flatterten.