Jamie spürte, wie ihn eine Woge der Erleichterung überlief. Es war leichter, über nationale Politik zu diskutieren, als seiner Mutter dabei zuzusehen, wie sie die Tränen zurückzuhalten versuchte.
Sie gingen das ganze Für und Wider durch, alle Argumente, die sie bei jedem seiner Besuche hin und her diskutiert hatten. Ohne Polemik. Ohne die Stimmen zu erheben oder in Wallung zu geraten. Wie bei einer Seminarübung. Während Jamie ruhig und logisch wie ein guter Debattierer die Marsfrage erörterte, erkannte er, daß sein Vater der vollendete Akademiker geworden war: Nichts berührte ihn mehr wirklich; er betrachtete alles nur noch abstrakt; nicht einmal der offensichtliche Schmerz seiner Frau, die auf der anderen Seite des Tisches saß, keinen Meter von ihm entfernt, konnte ihn aus dem bequemen Kokon herausreißen, den er um sich gewoben hatte.
Mein Gott, dachte Jamie, Dad ist alt geworden. Blutleer und alt. Ob es mir wohl auch einmal so gehen wird? Hoffentlich nicht.
Erst lange nach dem Essen, als er sich auf den Weg nach oben zu dem Zimmer machte, in dem er seit seiner Kindheit schlief, fragte seine Mutter: »Mußt du wirklich morgen schon abreisen? Kannst du nicht noch ein bißchen bleiben?«
Ich halte das keinen Tag länger aus, dachte Jamie. So sanft er konnte, erklärte er seiner Mutter: »Ich muß am Montag ganz früh im Raumfahrtzentrum sein.«
»Aber du mußt doch nicht schon so bald wieder abreisen, oder?«
Er zögerte. »Ich möchte auf jeden Fall noch Großvater Al besuchen.«
»Oh.« In der einen Silbe schwangen lebenslanger Kummer und Abscheu mit.
Sein Vater hatte ihnen zugehört und kam nun auf den Flur heraus. »Du möchtest lieber bei deinem Großvater sein als bei deiner Mutter?« fragte er scharf.
Das überraschte Jamie; es freute ihn beinahe.
»Er ist der einzige Großelternteil, den ich noch habe. Ich fände es nicht richtig zu fliegen, ohne ihm auf Wiedersehen zu sagen.«
Jerome Waterman schnaubte, sagte aber nichts mehr.
3
Jamie mußte sich mit einem Linienflug von Oakland International nach Albuquerque zufriedengeben. Al wartete am Flughafen auf ihn — mit einem gemieteten Hubschrauber samt Piloten.
»Was hast du denn vor?« fragte Jamie, als er in den kleinen Chopper mit der Glaskanzel stieg.
Al grinste breit. Sein ledriges Gesicht war eine geologische Karte des Glücks.
»Du hast nur ein paar Stunden Zeit, stimmt’s? Dachte, wir machen einen kleinen Flug rauf zur Mesa Verde, statt im Haus rumzusitzen.«
»Mesa Verde?« brüllte Jamie über das Heulen des anlaufenden Triebwerks hinweg. »Du wirst mir doch nicht mystisch, oder?«
Al lachte. »Vielleicht. Wir werden sehen.«
In den Bergen lag bereits der erste Schnee, und Jamie fror in seiner leichten Windjacke, als er und Al auf dem gut markierten Weg vom Hubschrauberlandeplatz zum Rand des Canyons marschierten.
»Ich hätte ein paar Mäntel mitnehmen sollen«, murmelte Al. Er trug eine abgenutzte alte Jeansjacke und die dazugehörige Hose.
»Ist schon okay. Die Sonne wärmt uns auf.«
Der Himmel war wolkenlos blau. Große Klumpen feuchten Schnees fielen aus den Goldkiefern und Pinien, tropften wie Eiskremkleckse herunter und platschten spritzend auf den Kiesweg. Jamies High-Tech-Reeboks wurden durchnäßt. Al trug seine üblichen strapazierfähigen und bequemen Stiefel. Und sein Hut mit der breiten, herunterhängenden Krempe schützte seinen Kopf vor dem herabfallenden Schnee. Der barhäuptige Jamie mußte die Bäume im Auge behalten und den Schneeklumpen ausweichen.
Die Luft war dünn so hoch oben. Jamie hörte seinen Großvater pfeifend atmen. Er hatte die Anasazi-Ruinen natürlich schon früher gesehen, aber aus irgendeinem Grund wollte Al, daß er sie noch einmal sah, bevor er zu einer anderen Welt aufbrach.
Sie erreichten den Kamm des hohen Berggrats, gingen ein paar Minuten lang stumm und schweratmend am Rand entlang und kamen dann aus einem Kieferwäldchen heraus.
Hinter einer Biegung des Kammes duckten sich die alten Ruinen dreißig Meter unter ihnen in eine Spalte des uralten, massiven Gesteins. Bis auf den heutigen Tag wurden die Adobeziegelbauten von dem überhängenden Felsen vor Wind und Schnee geschützt. Rotbrauner Sandstein, wie Jamie wußte. Fast dieselbe Farbe wie auf dem Mars.
»Deine Vorfahren haben dieses Dorf fünfhundert Jahre vor Columbus’ Geburt gebaut«, sagte Al leise.
»Ich weiß.«
»Wenn du zum Mars fliegst, mein Sohn, nimmst du sie mit dir. Die Alten. Sie sind in deinem Blut.«
Jamie lächelte seinen Großvater an. »Bei Gott, Al, jetzt wirst du doch noch mystisch.«
Das Gesicht seines Großvaters war vollkommen ernst. »Es ist wichtig für einen Mann, zu wissen, wer er ist. Sonst kann man nicht im Gleichgewicht sein. Man kann nicht wissen, wohin man geht, wenn man nicht weiß, woher man kommt.«
»Ich verstehe, Großvater.«
»Dein Vater …« Al zögerte. Der alte Mann hatte ihn nie als seinen Sohn bezeichnet, solange Jamie sich erinnern konnte. »Dein Vater hat all dem den Rücken gekehrt. Er wollte unbedingt von den Weißen akzeptiert werden! Er hat sich in einen Anglo verwandelt. Ich werfe es ihm nicht vor. Es ist wohl meine eigene Schuld. Ich habe ihm nicht halb soviel beigebracht wie dir, Jamie. Ich war damals zu beschäftigt mit dem Laden und allem. Ich habe mir nicht die Zeit genommen, ihn so zu erziehen, wie ich es hätte tun sollen.«
»Es ist nicht deine Schuld, Al.«
»Ich glaube schon. Ich war ihm kein so guter Vater, wie ich dir ein Großvater gewesen bin. Ich verstehe, wieso er das Gefühl hatte, den Weg einschlagen zu müssen, den er eingeschlagen hat. Aber ich möchte, daß du nicht vergißt, wer du bist, mein Sohn. Du gehst dorthin, wo noch nie einer hingegangen ist. Du wirst dich bisher unbekannten Gefahren gegenübersehen. Du wirst besser zurechtkommen, wenn du dich an all das erinnerst und es immer im Gedächtnis behältst.«
Jamie schaute zu dem alten Adobedorf hinüber, den gedrungenen Bauten mit ihren leeren Fensterhöhlen, den ummauerten Kreisen der Kivas, wo die Männer im berauschenden Rauch kostbaren Tabaks ihre religiösen Zeremonien abgehalten hatten, und nickte seinem Großvater zu.
»Ich wußte, daß du zum Mars fliegen würdest«, sagte Al. Seine Stimme brach beinahe. »Ich habe nie auch nur im geringsten daran gezweifelt.«
»Ich werde mich an das hier erinnern«, sagte Jamie. »Ich werde es in meinem Herzen bewahren.«
Al griff in die Tasche seiner Jeansjacke. »Hier«, sagte er. »Eine Gedächtnisstütze.«
Jamie sah, daß sein Großvater ihm ein behauenes, pechschwarzes Stück Obsidian in der Totemform eines zusammengekauerten Bären hinhielt. Eine winzige Pfeilspitze aus Türkis war mit einem Lederband auf seinen Rücken gebunden; unter dem Band steckte eine winzige weiße Feder.
Ein Fetisch, erkannte Jamie. Ein schützendes Stück Navajo-Zauber.
»Das ist eine Adlerfeder«, sagte Al, außerstande, seinen Ladenbesitzer stolz zu unterdrücken.
Jamie nahm den Fetisch. Er war klein in seiner Hand, aber schwer, massiv und stark.
»Ich werde ihn immer bei mir tragen, Großvater.«
Al grinste beinahe verlegen. »Geh in Schönheit, mein Sohn.«
4
Jamie kam noch Sonntag nacht nach Houston in seine Wohnung zurück und kroch emotional erschöpft ins Bett. Während er schlief, wurde in Star City, mehr als zehntausend Kilometer entfernt, über seine Zukunft entschieden.
Alberto Brumado döste in der Limousine, die ihn bei seiner Ankunft in Moskau vom Flugzeug abgeholt hatte. Er saß allein auf dem geräumigen Rücksitz, litt nach seinem Überschallflug aus Washington unter der Zeitumstellung und achtete nicht auf die Reihen hoher Wohnblocks und die tiefhängenden grauen Wolken, die sich ostwärts zur eigentlichen Steppenlandschaft Rußlands erstreckten. Über eine Stunde lang raste der Wagen auf der breiten, betonierten Landstraße dahin; der Verkehr wurde immer dünner, bis nur noch wenig mehr als hin und wieder ein schwerfälliger Sattelschlepper unterwegs war, dessen Dieselmotor rußige Auspuffwolken in die Luft hustete.