Sie passierten Kaliningrad, fuhren an Wäldern und Seen vorbei und über einen Bahnübergang, Richtung Star City.
Der wahre Name des Ortes lautet Swjostny Gorodok, wörtlich ›Sternenstadt‹. Aber bei dem ersten gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Raumfahrtunternehmen, der Apollo-Sojus-Mission von 1975, ist durch eine kleine Fehlinterpretation eines NASA-Übersetzers Star City daraus geworden, und so wird es von den westlichen Medien seither genannt.
Früher einmal war es eine kleine Stadt gewesen, nicht mehr als eine Handvoll Wohnblocks und ein Dutzend große Betonbauten, die das Trainingszentrum der Kosmonauten beherbergten; man hatte sie absichtlich in die kahle Einöde zwischen einem dichten Kiefernwald und einer Ansammlung kleiner Seen gestellt.
Als Alberto Brumados Wagen nun an dem Wachposten in der Umzäunung vorbeifuhr, stellte er fest, daß sie zu einer größeren Stadt herangewachsen war. Wissenschaftler und Astronauten aus aller Welt trainierten hier für den Mars. Die Medien der Welt konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf diesen Ort. Um die klaren blauen Seen herum war eine richtige Stadt mit Häusern für die im Trainingszentrum tätigen Arbeiter sowie mit Läden, Märkten und Unterhaltungskomplexen entstanden. Nah beim Haupttor des Trainingszentrums selbst stand das Raumfahrtmuseum, ein anmutig geschwungenes Betongebilde, das den Geist des Fluges einfing.
Brumado hatte das Geheimnis der Reisenden schon vor Jahren kennengelernt: Schlaf, wann immer du kannst. Als die Limousine nun vor dem großen Verwaltungsgebäude des Trainingszentrums hielt, erwachte er aus seinem Nickerchen, bereit, auszusteigen und sich seinen Aufgaben zu stellen, wach, wenn auch nicht richtig erfrischt.
Dr. Li Chengdu kam mit seinen langen Beinen beinahe die Vortreppe des Gebäudes herabgesprungen, um Brumado zu begrüßen und zu dem Büro zu führen, das die Russen ihm zur Verfügung gestellt hatten. Dr. Li trug einen teuer aussehenden kastanienbraunen und schiefergrauen Trainingsanzug. Der senkrechte weiße Streifen an den Beinen machte ihn noch größer und dünner, als er ohnehin schon war. Sein Gesicht wirkte gestresst, gräulich, ungesund. Vielleicht liegt es an diesem kastanienbraunen Oberteil, dachte Brumado. Es ist nicht gut für seine Hautfarbe. Er selbst trug noch den dunkelblauen Geschäftsanzug aus Washington. Die Krawatte hatte er schon vor Stunden abgenommen und in die Tasche seines Jacketts gestopft. Das Hemd war schlaff und zerknittert von der langen Reise.
Das Büro, in das Li ihn führte, war geräumig und mit einem großen, polierten Konferenztisch ausgestattet, sah Brumado. Gut. Und es hatte eine eigene Toilette. Noch besser. Die zweite Regel des Gewohnheitsreisenden: Geh nie an einer Toilette vorbei, ohne sie zu benutzen.
Drei Minuten später hatte Brumado seine Blase entleert, sich das Gesicht gewaschen und die Haare gekämmt. Er zog sich einen Stuhl am Konferenztisch heraus, ohne den massiven Schreibtisch und den hochlehnigen Drehsessel dahinter zu beachten. Brumado war der Ansicht, daß er hier war, um bei der Lösung eines plötzlich aufgetretenen Problems zu helfen, und nicht, um andere mit den Insignien der Macht zu beeindrucken.
Außerdem habe ich hier keine echte Macht, sagte er sich, keine Autorität über diese Männer und Frauen. Meine Stärke liegt in moralischer Überzeugungsarbeit, das ist alles.
Dr. Li marschierte in dem Büro auf und ab, von den mit Vorhängen versehenen Fenstern zum Kopfende des Konferenztisches und wieder zurück. Brumado hatte ihn noch nie so nervös erlebt.
»Bitte nehmen Sie hier neben mir Platz«, sagte Brumado milde. »Ich bekomme ein steifes Genick davon, wenn ich immer zu Ihnen aufschauen muß.«
Lis dünnes, asketisches Gesicht nahm für einen Moment einen Ausdruck der Verblüffung an, dann schaute er reumütig drein. Er setzte sich auf den Stuhl neben Brumado.
»Sie scheinen sehr aufgeregt zu sein«, sagte Brumado. »Was ist los?«
Li trommelte mit seinen langen Fingern auf den Tisch, bevor er antwortete. »Es sieht so aus, als hätten wir es mit einer waschechten Meuterei zu tun. Und Ihre Tochter, Sir, ist offenbar die Anführerin.«
»Joanna?«
»Als sich herausstellte, daß DiNardo nicht mitfliegen kann, forderten Ihre Tochter und andere, daß Professor Hoffmann ebenfalls ausgewechselt werden sollte.«
Brumado war verwirrt. So etwas würde Joanna niemals tun. Niemals!
»Ich verstehe nicht«, sagte er.
»Ihre Tochter und mehrere andere Wissenschaftler hier haben sich geweigert, an der Mission teilzunehmen, wenn Hoffmann zum Team gehört. Es ist schlicht und einfach Meuterei.«
»Meuterei«, sagte Brumado ungläubig. Er war wie betäubt und hatte das Gefühl, begriffsstutzig zu sein, als könnte sein Gehirn die Bedeutung von Lis Worten nicht erfassen.
»Wir können die endgültige Auswahl der Teilnehmer nicht bekanntgeben und auch nicht damit anfangen, den wissenschaftlichen Stab zur Montagestation im Orbit hinaufzubringen, wenn sie die Mission boykottieren.« Lis Stimme war hoch und angespannt; sie schnappte beinahe über.
Brumado hatte Li noch nie so erlebt; er schien der Panik nahe zu sein.
»Was können wir tun?« fragte Li und erhob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. »Wir können Professor Hoffmann doch nicht erklären, daß er aus dem Team fliegt, weil eine Clique seiner Kollegen ihn nicht mag! Was können wir tun?«
Brumado holte tief Luft und versuchte unbewußt, Li zu beruhigen, indem er sich selbst beruhigte. »Ich glaube, ich sollte zunächst einmal mit meiner Tochter sprechen.«
»Ja«, sagte Li. »Natürlich.«
Er sprang mit seinen ganzen zwei Metern Länge von seinem Stuhl auf und sprintete beinahe zu dem Schreibtisch, wo das Telefon stand. Brumado schälte sich aus seinem Jackett und warf es auf einen anderen Stuhl. Er rollte sich gerade die Hemdsärmel hoch, als Joanna das Büro betrat. Sie trug ebenfalls einen weichen, bequemen Trainingsanzug, aber in Buttergelb und gedämpftem Orange. Brumado fragte sich müßig, was die Russen von diesem amerikanischen Modefimmel hielten.
»Ich lasse Sie beide allein«, sagte Li leise, beinahe im Flüsterton. Er verschwand aus dem Raum wie eine Rauchfahne, die von einer starken Brise verweht wird.
Joanna kam zu ihrem Vater herüber, küßte ihn auf beide Wangen und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Li zuvor gesessen hatte.
Brumado musterte ihr Gesicht. Sie wirkte ernst, aber nicht aufgeregt. Eher entschlossen als ängstlich.
»Doktor Li sagt, du führst eine Meuterei unter den Wissenschaftlern an.« Brumado ertappte sich dabei, daß er sie bei diesen Worten anlächelte. Nicht nur, daß es ihm schwerfiel, eine solch ungeheuerliche Geschichte zu glauben — selbst wenn sie stimmte, konnte er seiner reizenden Tochter nicht böse sein.
»Wir haben gestern abend eine Abstimmung durchgeführt«, berichtete Joanna in ihrer beider Muttersprache, brasilianischem Portugiesisch. »Von den sechzehn Wissenschaftlern, die mitfliegen sollen, werden elf hierblieben, falls Hoffmann mit von der Partie ist.«
Brumado strich sich mit einer Fingerspitze über die Oberlippe, ein Rückfall in seine Jugend, als er einen üppigen Schnurrbart gehabt hatte.
»Zu den sechzehn gehört auch Hoffmann selbst. Hat er ebenfalls abgestimmt?«
Joanna lachte. »Nein. Natürlich nicht. Wir haben ihn nicht gefragt.«
»Warum?« fragte ihr Vater. »Was ist der Grund dafür?«
Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. »Im Grunde kann keiner von uns Hoffmann leiden. Er ist ein sehr schwieriger Mensch. Wir glauben, daß es unmöglich sein wird, unter den äußerst beengten Verhältnissen der Mission mit ihm zusammenzuarbeiten.«