Die Physiker wollten untersuchen, was geschah, wenn die energiereiche Strahlung und die subatomaren Partikel, die in einem stetigen Strom von der Sonne und den Sternen kamen, auf die dünne Marsatmosphäre trafen. Sie wollten auch das Innere des Planeten erkunden, um herauszufinden, weshalb der Mars kein den gesamten Planeten umspannendes Magnetfeld besaß wie die Erde.
Insbesondere die Russen wollten die beiden winzigen Monde des Mars untersuchen und Techniken zur Gewinnung von Raketentreibstoffen aus ihren felsigen Körpern testen. Die Amerikaner wollten den alten Viking-Lander besuchen und zu Ehren eines toten Wissenschaftlers eine Plakette an ihm anbringen.
Das Resultat dieser unvereinbaren Wünsche war ein Kompromiß, der niemanden zufriedenstellte. Der ausgewählte Landeplatz lag knapp nördlich des Äquators bei hundert Grad westlicher Breite, am Rand einer massiven Aufwölbung der Marskruste, die Tharsis-Buckel genannt wurde. Im Süden lag das Noctis Labyrinthus, sogenannte ›Badlands‹, ein Gewirr kleiner Schluchten und niedriger Kämme; im Westen befanden sich die gewaltigen Schildvulkane von Tharsis. Der eigentliche Landeplatz war jedoch eine ganz normale, leicht abschüssige Ebene, auf der die Landung als relativ unproblematisch eingeschätzt worden war, ungefähr gleich weit vom westlichen Ende des monumentalen Grabenbruchs namens Valles Marineris und der Kette von Vulkanen entfernt, welche die Tharsis-Hochebene krönten.
Ein Spezialteam im Raumschiff in der Marsumlaufbahn würde Deimos und Phobos einen Besuch abstatten, den beiden Monden des Mars, wo die Russen ihre Ideen realisieren konnten. Einer der amerikanischen Astronauten konnte mit dem Schwebegleiter zum Viking I-Landeplatz fliegen, wenn es die Umstände erlaubten. Die Entscheidung darüber lag beim Kommandanten des Bodenteams, Kosmonaut Mikhail Andrejewitsch Wosnesenski. Und der Flug würde nur stattfinden, wenn der Expeditionskommandant, Dr. Li Chengdu, seine Zustimmung gab.
Die Forscher verfügten über zwei ziemliche große Bodenfahrzeuge für Fahrten über Land und zwei Schwebegleiter mit hauchdünnen Flügeln für größere Entfernungen.
Die Missionspläne waren präzise und detailliert. Sie sahen kurze Exkursionen zu den Badlands von Noctis Labyrinthus und zu einem der Tharsis-Vulkane vor, des weiteren umfangreiche chemische Untersuchungen des Marsbodens, Bohrungen nach unterirdischem Wasser und natürlich die kontinuierliche Suche nach irgendeinem Anzeichen, daß es auf dem Mars früher einmal Leben gegeben hatte.
Von allen Landeplätzen in sämtlichen Regionen auf dem gesamten Planeten Mars mußten sie sich ausgerechnet den hier aussuchen, murrte Jamie in sich hinein. Wahrscheinlich der langweiligste Ort, den sie finden konnten. Eine Ebene mit nicht allzu vielen Kratern auf einem Hochlandbuckel, so weit von der interessanten Linie der Vulkane entfernt, daß man nicht einmal ihre fünfundzwanzig Kilometer hohen Gipfel über dem Horizont sehen konnte. Weiter westlich ein paar Sanddünen, und überall die gleichen alten Felsbrocken, wohin man auch schaute. Das Interessanteste in diesem Gebiet dürften die durch Bruchbildung entstandenen Höhenzüge in den wilden Badlands im Süden sein, aber die lagen mindestens dreihundert Kilometer entfernt.
Ach, was soll’s, seufzte er innerlich. Sie haben sich diese Stelle ausgesucht, weil man hier gefahrlos landen konnte, nicht weil sie geologisch interessant ist. An die Arbeit.
Jamie begann damit, Gesteinsproben zu sammeln. Die weite, freie Fläche, auf der sie gelandet waren, war mit Steinen von Kieselgröße bis zu mannshohen Felsblöcken übersät. Wahrscheinlich bei dem Einschlag eines großen Meteoriten hochgeschleudert. Oder vielleicht bei dem Ausbruch eines Tharsis-Vulkans, obwohl die nicht so aussahen, als ob sie derart heftig ausgebrochen wären. Jamies Ausrüstung in der Kuppel würde ihm sicherlich sagen, woher die Steine stammten.
»Bitte achtet auf alle merkwürdigen Farben«, drang Joannas Stimme über Kopfhörer an sein Ohr.
Jamie drehte den Kopf und sah nur die Innenseite seines Helms. Er drehte den ganzen Körper um neunzig Grad, und da war sie in ihrem leuchtenden Anzug, ein Dutzend Meter entfernt. Monique Bonnet war immer noch dicht neben ihr.
»Irgendeine bestimmte Farbe?« fragte er halb scherzhaft. »Wir haben hier eine breite Palette von Rot- und Rosatönen.«
»Grün wäre nett«, zirpte Moniques helle, angenehme Stimme.
»Jede Farbe, die ungewöhnlich erscheint«, sagte Joanna. »Wir sind nicht wählerisch. Noch nicht.«
Gleich vor der Luftschleuse baute Connors eine der Fernsehkameras für sein Bildungsprogramm auf. Eine kleine Kiste mit Requisiten stand zu seinen Füßen. Die anderen hatten sich so weit vorgebeugt, wie es die Anzüge erlaubten, und suchten den sandigen Boden aufmerksam ab, wie ein Trupp Platzwarte, die nach Abfall Ausschau hielten. Oder wie die Frauen auf diesem berühmten Gemälde, dachte Jamie. Ährenleserinnen — Genau das tun wir hier, wir lesen Dinge auf, versuchen, in dieser eisigen Wüste kleine Bröckchen Nahrung für unseren Geist zu finden.
Verdammt schwierig, in dem Anzug den Boden zu sehen, grummelte Jamie im stillen. Biegsam ist das Ding so gut wie gar nicht. Wer immer diese Aluminiumdosen entworfen hat, an die Arbeiten, die wir in ihnen ausführen müssen, hat er nicht gedacht.
Toshima war rund zwanzig Meter von der Kuppel entfernt emsig damit beschäftigt, auf der von den beiden Landefahrzeugen abgewandten Seite eine Wetterstation aufzubauen. Sein pfirsichfarbener Anzug verschmolz viel besser mit dem rostroten Hintergrund, als Jamie gedacht hätte. Er ist richtiggehend getarnt. Das könnte ein Problem werden. Die Anzugfarben waren unter dem Gesichtspunkt ausgewählt worden, daß sie sich deutlich gegen die Marslandschaft abhoben. Wer, zum Teufel, hatte das Pfirsich genehmigt?
Ilona nahm das lockere, sandige Erdreich mit einer kleinen Schaufel auf und kippte es in eine Schachtel. Sie, Joanna und Monique wollten versuchen, im Innern der Kuppel ein Sortiment von Bohnen, Kürbissen, Erbsen und Gurken anzubauen und dabei so viele einheimische marsianische Ressourcen zu benutzen wie möglich — einschließlich Wasser, wenn sie welches entdeckten. Unter anderem wollten sie damit herausfinden, wie sich die geringere Marsschwerkraft auf das Wachstum und die Größe der Pflanzen auswirken würde. Sie hatten vor, ihre kleine agrikulturelle Versuchseinrichtung zum Raumschiff in der Umlaufbahn mitzunehmen und das Experiment auf dem Rückflug zur Erde weiterzuführen.
Zuerst werden sie das Erdreich erhitzen müssen, damit sich die Oxide darin verflüchtigen, dachte Jamie. Sonst wäre es so, als würde man Samen in Bleichmittel anpflanzen.
Er wandte seine Aufmerksamkeit den Steinen zu.
An denen herrschte kein Mangel. Große Blöcke von über einem Meter Durchmesser, jede Menge kleinere bis hinab zur Größe von Kieselsteinen. Viele sahen zernarbt aus, von der Verwitterung gezeichnet. Regen konnte es nicht gewesen sein, dachte Jamie. Hat hier bestimmt seit einer Milliarde Jahren nicht mehr geregnet. Aber an Wintermorgen gab es Frost. Die Steine dehnten sich in der Tageswärme aus, sofern man von Wärme sprechen konnte, und zogen sich in den bitterkalten Nächten wieder zusammen.
Aber das würde keine Vertiefungen in ihnen hinterlassen, dachte Jamie. Sie müßten lateral zerbrechen und abblättern, statt Dellen zu bekommen wie Golfbälle. Wenn sie vulkanischen Ursprungs waren, dann stammten die Narben möglicherweise von in den Steinen gefangenen Gasen, die ausgetreten waren und sich verflüchtigt hatten. Konnten die Steine von den sechs- bis siebenhundert Kilometer entfernten Vulkanen bis hierher geschleudert worden sein? Oder waren sie durch lange zurückliegende Meteoriteneinschläge aus dem Boden gesprengt und aus der Atmosphäre herausgeschleudert worden, so daß sie hinterher wie Raketengeschosse wieder eingetreten waren?