Jamie nickte in seinem Helm. Sie hatte recht. Obwohl alles dafür sprach, daß es sich bei dem grünen Streifen nur um eine Patina aus Kupferoxid handelte, hatte es keinen Sinn, die vielleicht größte Entdeckung aller Zeiten zunichte zu machen.
»Bitte faß den Stein nicht an«, sagte Joanna. »Vielleicht könntet ihr anderen euch in diesem Gebiet umschauen, ob noch mehr Steine eine solche Färbung aufweisen. Aber ihr dürft sie auf keinen Fall berühren. Ist das klar?«
Mit einemmal hatte sie die Führung übernommen. Sie flüsterte nicht mehr. Der hübsche kleine Schmetterling hatte sich in einen weiblichen Drachen verwandelt. Was bisher eine geologische Exkursion gewesen war, hatte sich nun in eine Art Biologiekurs verwandelt, und Jamie war nur eine der Hilfskräfte. Er merkte, wie sich seine Lippen zu einem festen, zornigen Strich zusammenpreßten.
Aber er wußte, daß sie recht hatte und daß es ihr gutes Recht war, so zu handeln. Er kam in dem schwerfälligen Anzug langsam auf die Beine.
»Okay, Boss«, erwiderte er mit übertriebenem Respekt. »Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Joanna nahm die leise Ironie nicht wahr. Sie wies Monique an, bei dem Stein Wache zu halten, und befahl den anderen vier, das Gebiet nach weiteren grünen Stellen abzusuchen. Connors stand in seinem weißen Raumanzug ein wenig abseits wie ein Polizist; er beobachtete nur, nahm aber nicht teil. Joanna ging dorthin zurück, wo sie ihre Probenbehälter stehenlassen hatte; sie hüpfte beinahe über den steinigen Wüstensand.
»Formidable.« Moniques Stimme klang belustigt.
Jamie fragte: »Sagt mal, war einer von euch so schlau, einen Fotoapparat mitzunehmen?«
»Ich habe eine Kamera«, sagte Toshima.
»Könnten Sie eine Reihe von Aufnahmen von dem Stein und dem Gebiet drum herum machen, und zwar aus jedem Winkel — volle dreihundertsechzig Grad?«
»Ja, natürlich.«
Jamie dachte an die Jagdausflüge mit seinem Großvater Al zurück. Sie hatten einander stets mit ihrer Beute fotografiert — Rotwild, Kaninchen, sogar das Gilamonster, das Jamie mit seiner Zweiundzwanziger geschossen hatte, als er gerade mal zehn Jahre alt gewesen war. Seine Mutter erlaubte Jamie nur höchst ungern, auf die Jagd zu gehen, aber sein Vater konnte gegen Großvater Als Entschlossenheit nichts ausrichten. »Ihr könnt den Jungen doch nicht ständig in eine Bücherei einsperren«, pflegte Al zu argumentieren. »Er sollte draußen an der frischen Luft sein.« Wenn sie dann oben in den bewaldeten Bergen miteinander allein waren, erklärte ihm sein Großvater immer wieder: »Sie versuchen, einen hundertprozentigen Weißen aus dir zu machen, Jamie. Ich möchte nur, daß ein kleines bißchen von dir rot bleibt, so wie du eigentlich sein solltest.«
Jamie richtete den Blick wieder auf den Stein. Er war so klein, daß man ihn problemlos aufheben und tragen konnte, erst recht bei dieser geringen Schwerkraft. Es wäre ein tolles Foto, das ich meinem Großvater schicken könnte, dachte er. Ich in diesem verdammten Anzug mit dem Stein als Trophäe.
Aber er posierte nicht für Toshimas Fotoapparat.
Joanna kam fast eine halbe Stunde später zurück, zusammen mit Wosnesenski. Er trug die beiden großen, silbern beschichteten Probenbehälter und zwei lange, dünne Stangen, die für Jamie wie Angeln aussahen. Jamie wußte, daß es Markierstangen mit winzigen Funkbaken an der Spitze waren. Er grinste vor sich hin: Jetzt hat Joanna es sogar geschafft, den Russen für sich einzuspannen.
»Ich habe mich schon gefragt, ob ich die je benutzen müßte«, plapperte sie. »Ich hätte nie gedacht, daß ich sie gleich am ersten Tag im Gelände brauchen würde!«
Die anderen hatten in rund hundert Metern Umkreis um den Stein herum keine weiteren grünen Stellen entdeckt. Der Boden war jetzt kreuz und quer mit den Abdrücken ihrer dicksohligen Stiefel überzogen, bis auf einen sakrosankten halben Meter um den Stein herum. Niemand hatte sich näher herangewagt, aus Angst, einen entscheidenden Hinweis zu beschädigen oder zu vernichten.
Wosnesenski blieb stehen und beugte sich ein wenig vor, die Hände in den Hüften, als wollte er dem Stein huldigen. In seinem knallroten Anzug sah er für Jamie wie eine dicke, bucklige Paprikaschote aus.
Joanna nahm die Sache in die Hand. »Fassen Sie den Stein nicht an. Bevor wir irgend etwas unternehmen, brauche ich Bodenproben aus dem Erdreich unmittelbar um den Stein herum und unter ihm.«
»Das kann ich mit dem Kernbohrer machen«, sagte Jamie und griff nach dem Werkzeug an seinem Gürtel. »Den kann man an der Stange befestigen, so daß wir Proben aus bis zu fünf Meter Tiefe kriegen können.«
»Gut«, sagte Joanna.
»Damit könnten wir auch feststellen, ob es im Boden Permafrost gibt, nicht?« fragte Ilona. Zum ersten Mal seit der Landung klang ihre Stimme erregt.
Er nickte; dann wurde ihm klar, daß niemand die Geste durch sein getöntes Visier sehen konnte, und er fügte hinzu: »Ja, das stimmt.«
»Pete«, befahl Wosnesenski, »bringen Sie die Videokamera her. Wir müssen das aufzeichnen.«
»In Ordnung«, sagte der Astronaut und ging zur Kamera zurück, die er auf ihrem Stativ stehenlassen hatte.
»Der Film in meinem Apparat ist fast zu Ende«, sagte Toshima. »Ich werde jetzt die letzten paar Bilder machen und dann einen neuen einlegen.«
»Nein!« fauchte Naguib. »Gehen Sie nicht das Risiko ein, daß hochenergetische Strahlung den Film zerstört. Hier, nehmen Sie meinen Apparat. Es ist noch ein kompletter Film drin.«
»Danke«, sagte Toshima.
Connors kam wieder ins Blickfeld gestapft. Die Videokamera baumelte von einer behandschuhten Hand. Als Wosnesenski sich überzeugt hatte, daß Kameramann und Fotograf soweit waren, befahl er: »Fahren Sie fort.«
Aber niemand rührte sich, bis Joanna sagte: »Ich möchte vier Proben, eine von jeder Seite des Steins, so tief, wie es geht.« Dann setzte sie hinzu: »Bitte.«
Jamie lehnte sich auf die Stange, und der Kernbohrer grub sich in den Boden. Die ersten paar Zentimeter überwand er mit Leichtigkeit, aber dann wurde es schwierig. Jamie drückte mit aller Kraft, bis ihm der Schweiß ausbrach.
»Das ist so was wie Ortstein«, grunzte er.
»Oder Permafrost?« schlug Ilona hoffnungsvoll vor.
Jamie zog die Stange heraus und überließ es Patel, dem zweiten Geologen, den Mechanismus zu bedienen, der die dünne Säule aus rotem Staub aus den scharfen Zähnen des Kernbohrers löste und behutsam in einem von Joannas Probenbehältern verstaute. Patel arbeitete langsam und vorsichtig, damit der bröckelige Zylinder nicht zerfiel.
Jamie bemerkte, daß die Säule gestreift war. Verschiedene Rottöne. Fluviale Ablagerungen, vermutete er. Hier mußte es einmal ein Meer gegeben haben. Oder zumindest einen großen See.
Vier Proben von den Seiten des Steines. Jamie mußte beim Graben mehrmals innehalten, damit das Gebläse den Nebel beseitigen konnte, der sich in seinem Helm gebildet hatte. Trotz seiner Bemühungen unternahm weder Patel noch einer der anderen auch nur den leisesten Versuch, ihm zu helfen. Statt dessen betrachteten sie eingehend die Proben und entwickelten spontane Theorien, um ihr Aussehen zu erklären.
Sie sind alle so gebannt von dem Geschehen, daß sie nicht einmal auf die Idee kommen, mir zu helfen, sagte er sich. Außerdem haben sie einen Indianer, der die Schwerarbeit macht. Warum sollten sie sich damit abgeben?
»Dann wollen wir mal«, sagte Joanna, nachdem vier Proben in dem ersten Behälter lagen. Sie sank langsam auf die Knie und beugte sich über den Stein.
Jamie kniete sich neben sie. »Du wirst Hilfe brauchen, um ihn hochzuheben …«
»Nein!« fuhr sie ihn an. »Das schaffe ich allein. Wir sind schließlich auf dem Mars.«