Der Mars war ein ferner, winziger Punkt in dieser Schwärze, ein lockendes, stetiges rötliches Leuchtfeuer jenseits des Welten trennenden Abgrunds.
Die Montagestation selbst — ein zusammengesetztes Habitat — bestand aus einer russischen Mir-Station und dem generalüberholten externen Treibstofftank einer amerikanischen Raumfähre, der größer war als ein Zwanzigzimmerhaus. Der Mir-Teil der Montagestation war ungefähr in der Mitte des Shuttle-Tanks an dessen langer, gekrümmter Flanke angebracht und sah aus wie eine winzige grüne Gondel an einem riesigen mattbraunen Zeppelin. Das russische Metallgebilde verfügte über drei Anlegedocks für Shuttles oder die kleineren Orbitalschlepper.
Hier würden die sechzehn ausgewählten Wissenschaftler vor ihrem Abflug zum Mars über einen Monat lang leben und arbeiten, um sich aneinander und an ihren Expeditionskommandanten, Dr. Li, zu gewöhnen. Und an die acht Astronauten und Kosmonauten, die das Marsschiff fliegen und das Kommando über die Bodenteams führen würden.
Ein paar hundert Meter von der Montagestation entfernt hingen die beiden langen, schlanken Marsschiffe inmitten von Orbitalschlepperschwärmen und dicken Shuttles in der schwarzen Leere. Sie glänzten weiß im grellen Sonnenlicht. Um sie herum schwebten winzige Gestalten in Raumanzügen, die klein wie Ameisen wirkten; sie flogen beständig hin und her und schafften Tag für Tag und Stunde um Stunde Vorräte und Ausrüstungsgegenstände zu ihnen hinüber. Verglichen mit den knolligen, mattbraunen und grünen Formen der Montagestation sahen die Marsschiffe wie schlanke Rennboote aus.
Im Orbit befand sich die ganze Ansammlung von Raumfahrzeugen und Menschen effektiv in der Schwerelosigkeit und war damit gewichtlos. Jamie spürte, wie seine Eingeweide in dem Moment wegsackten, als die Raketentriebwerke des Shuttles abgeschaltet wurden. Sein Innenohr sagte ihm, daß er fiel, unaufhörlich fiel. Doch er sah, daß er an seinem Sitz im voll belegten Mitteldeck der Fähre festgeschnallt war, in die man ihn zusammen mit fünf Technikern auf dem Weg zu einer weiteren Arbeitswoche hineingepfercht hatte. Ihre Overalls waren vom ständigen Gebrauch fleckig und ausgefranst; der von Jamie war so neu, daß er noch Bügelfalten an den Ärmeln hatte.
Alle Wissenschaftler-Kandidaten hatten während ihres jahrelangen Trainings zumindest ein paar Tage im Orbit verbracht. Jamie hatte zudem drei Flüge mit dem Vomit Comet gemacht, dem großen Düsentransporter, der Nullschwerkraft simulierte, indem er aus großer Höhe in den Sturzflug ging, dann in einem langen, parabelförmigen Bogen hochzog und dabei ungefähr eine halbe Minute Schwerelosigkeit erzeugte, bei der sich einem der Magen umdrehte. Er wußte, was ihn erwartete, und geriet nicht in Panik. Trotzdem fühlte er, wie es in seinem Magen brodelte, und sein Verstand umnebelte sich.
Jamie verspürte sämtliche klassischen Symptome der Raumkrankheit, als er den altgedienten Technikern durch die Luke des Shuttles und die engen Metallkammern der Mir in den geräumigeren Empfangsbereich des riesigen Shuttle-Tanks folgte. Sie unterschied sich ein wenig von der Seekrankheit. Er hatte ein dumpfes Gefühl im Kopf, während sich die Körperflüssigkeiten in seinem Innern frei vom Druck der Schwerkraft verlagerten. Ihm war ein wenig übel, fast schwindlig, und er fühlte sich desorientiert. Als hätte er sich eine schwere Grippe zugezogen.
Bordsanitäter nahmen ihn buchstäblich ins Schlepptau und erklärten ihn nach einer flüchtigen Untersuchung fröhlich für gesund. Sie gaben ihm ein Pflaster mit einem sich langsam freisetzenden Medikament, das er sich hinters Ohr kleben konnte, und teilten ihm mit, daß sich alle Marswissenschaftler im großen Besprechungsraum versammelten. Jamie wollte nicken, merkte, daß ihm von der Kopfbewegung speiübel wurde, und begnügte sich damit, nach dem Weg zum großen Besprechungsraum zu fragen.
Der Beschreibung folgend, bewegte er sich langsam durch den zentralen Gang, wobei er sich ohne jede Kraftanstrengung an den alle vier Wände säumenden Leitersprossen vorwärtshangelte wie ein Schwimmer, der sich am Rumpf eines gesunkenen Schiffes entlangarbeitet. Es war schwierig, an Decke und Boden zu denken, wenn Oben und Unten keine objektive Bedeutung hatten. Jamie betrachtete den Gang bewußt als einen tiefen Brunnen mit Metallwänden, den er emporstieg; in träumerischer Zeitlupe schwebte er schwerelos zum Rand hinauf.
»Ah, da sind Sie ja! Sie haben es geschafft.«
Jamie drehte sich um, als die Stimme hinter ihm erklang, und wünschte sofort, er hätte es nicht getan; sein Magen reagierte reichlich nervös.
Es war Tony Reed. Er lächelte, als wäre er in der Schwerelosigkeit geboren, und glitt so mühelos durch den Gang wie ein grinsender Delphin.
Jamie versuchte zu lächeln.
»Freut mich, Sie hier zu sehen«, sagte Reed und streckte die Hand aus, als er zu Jamie heraufkam, »obwohl Sie mir ein bißchen grün vorkommen.«
»Ich gewöhne mich schon daran«, sagte Jamie und hielt sich an einer Leitersprosse fest, während seine Füße frei im Raum schwebten.
»Aber natürlich. Wir sind alle sehr froh, daß Brumado die Chefetage dazu bewegen konnte, Sie als Geologen ins Team aufzunehmen.«
Reed setzte sich wieder in Bewegung, und Jamie stieß sich an einer Sprosse ab, um mit ihm Schritt zu halten. »Ich bin immer noch ein bißchen benommen … das ging alles so schnell.«
Mit seinem etwas schiefen Lächeln sagte Reed: »Dafür können Sie sich bei Joanna bedanken. Sie hat die Revolte gegen Hoffmann angeführt.«
»Joanna?«
»Ja. Hat sogar ihren Vater dazu gebracht, sie zu unterstützen. Sie kann eine richtige kleine Raubkatze sein, wenn sie will.«
Am Ende des langen Gangs versammelten sich weitere Personen, wie Jamie sah. Und hinter (unter?) ihnen kamen noch mehr.
Jamie senkte die Stimme und fragte: »Sie meinen, Joanna hat Hoffmanns Rücktritt erzwungen?«
»Sie war die Anführerin. Wir hatten aber alle gewissermaßen die Finger im Spiel. Als feststand, daß DiNardo nicht mitkommen würde, begriffen wir plötzlich, daß uns zwei Jahre in einer Zelle mit diesem österreichischen Zuchtmeister bevorstanden.«
»So schlimm ist er nun auch wieder nicht«, murmelte Jamie.
»Da waren die meisten von uns anderer Meinung. Und Joanna lag offenbar am meisten von uns allen daran, daß er zu Hause blieb.« Reeds Miene wurde pfiffig. »Vielleicht wollte sie auch nur, daß Sie mitfliegen. Ich bin richtig eifersüchtig, wissen Sie.«
Jamie verkniff sich eine Antwort. Sie waren den anderen jetzt zu nahe, um das Gespräch fortzusetzen. Er fragte sich, wieviel Wahrheit in Reeds Worten lag und wieviel von dem, was er gesagt hatte, eine scherzhafte Übertreibung war.
Von den Wissenschaftlern wurde nicht erwartet, daß sie in den ersten paar Tagen im Orbit irgendwelche Arbeiten verrichteten; die Missionsplaner waren davon ausgegangen, daß sie während dieser Zeit krank und nicht einsatzfähig sein würden. Aber sie konnten an Besprechungen teilnehmen. Die Psychologen behaupteten sogar, daß Aktivitäten, die eher geistige als körperliche Anstrengungen erforderten, sie von ihrem Unwohlsein ablenken würden.
Jamie folgte Reed durch eine Luke in dem Schott, an dem der lange Gang endete. Schwerelos glitt er in einen großen, freien Raum und stieg in der höhlenartigen Kammer in der Nase des ehemaligen Treibstofftanks wie eine Blase nach oben. Das kuppelartige Innere des Besprechungszentrums war mit schwarzweißen Streifen bemalt, die an der Spitze der Nase zusammenliefen. Jamie hing in der Luft, zwinkerte mehrmals und merkte, daß die ›Wand‹, durch die er gekommen war, zum ›Fußboden‹ des Besprechungszentrums geworden war.
Die überall auf der glatten Fläche angebrachten Fußschlaufen aus Plastik verstärkten diesen Eindruck.
Die schwarz-weißen Streifen boten eine starke vertikale Orientierung. Nachdem Oben und Unten nun klar festgelegt waren, ging es Jamie schon etwas besser. Er streckte eine Hand aus, als er sich einer gekrümmten Wand näherte, und stieß sich leicht zum Boden hin ab. In der Schwerelosigkeit kann jeder ein Akrobat sein, erkannte Jamie. Oder eine Balletteuse.