Allmählich versammelten sich sechzehn von Übelkeit befallene, ein wenig grün aussehende Wissenschaftler auf diesem Boden, steckten ihre Stiefel in die Fußschlaufen, neigten den Körper in der sogenannten ›Null-G-Kauerstellung‹ leicht nach vorn und ließen die Arme schwerelos auf Brusthöhe schweben. Wie am Meeresgrund sitzende Polypen, dachte Jamie, deren Arme in den Strömungen hin und her wedeln.
Dr. Li, der einen himmelblauen Overall mit Stehkragen trug, stand auf einer leicht erhöhten Plattform an einer Seite des kreisrunden Raums, obwohl er bei seiner Größe eigentlich keine Plattform benötigt hätte. Im Gegensatz zu ihm waren die meisten Astronauten und Kosmonauten, die sich um ihn versammelt hatten, ziemlich klein, sah Jamie; die meisten Flieger — sowohl Amerikaner als auch Russen — hatten die wie abgesägt wirkende Statur von Kampfpiloten.
Li war selber auch ziemlich grün im Gesicht, fand Jamie. Der Expeditionskommandant wartete ein paar Augenblicke, bis unter den versammelten Wissenschaftlern Stille eingekehrt war. Dann hob er mit seiner dünnen, hohen Stimme an: »Ob Sie es glauben oder nicht, wir durchlaufen jetzt gerade die schwierigste Phase unserer Mission.«
»Ich glaube es!« murmelte jemand laut genug, daß alle es hören und darüber lachen konnten.
»In ein paar Tagen haben wir uns an die geringe Schwerkraft gewöhnt. In ein paar Wochen steigen wir in die Marsschiffe um, die anschließend in Rotation versetzt werden, um die irdische Schwerkraft zu simulieren — und deren Rotation dann wieder verlangsamt wird, wenn wir uns dem Mars nähern, damit wir uns an die Marsschwerkraft akklimatisieren können.«
Li sah blaß und abgespannt aus. Sein Gesicht war jedoch aufgedunsener als auf der Erde, und seine Augen wirkten schmaler. Jamie kam der Gedanke, daß sie tonnenweise Nahrung sparen könnten, wenn sie bis zum Mars Schwerelosigkeit beibehielten; niemand würde dann sonderlich großen Appetit haben. Aber wir wären auch nicht in der Lage, auf dem Mars zu arbeiten, wenn wir dort sind.
»Ich werde Ihnen gleich unsere Astronauten und Kosmonauten vorstellen. Dann werden wir uns in Kleingruppen aufteilen, um uns besser kennenzulernen. Zuerst möchte ich Sie jedoch an einen sehr sensiblen und sehr wichtigen Punkt erinnern, ein Thema, das Sie alle schon einmal individuell mit den Ärzten und Psychologen erörtert haben. Es wird — wenn auch nur kurz — in den Missionsvorschriften erwähnt.«
Li holte einmal tief Luft. »Das Thema, von dem ich spreche, ist Sex.«
Alle holten Luft. Es war, als ob ein kollektiver Seufzer durch die Gruppe ginge. Jamie konnte die Gesichter der anderen Wissenschaftler nicht sehen, ohne den Kopf zu wenden, was ihm eine neue Welle der Übelkeit eintragen würde. Aber die Astronauten und Kosmonauten standen den Wissenschaftlern gegenüber, und Jamie sah ein paar grinsende Gesichter und sogar eine gerunzelte Stirn.
»Wir sind alle erwachsene Menschen«, sagte Dr. Li. »Wir haben alle einen gesunden Geschlechtstrieb. Wir werden nahezu zwei Jahre zusammenleben. Als Ihr Expeditionskommandant erwarte ich, daß Sie sich entsprechend benehmen. Wie erwachsene Menschen, nicht wie kindliche Affen.«
Niemand sagte ein Wort. Es gab kein Gelächter, kein Gekicher, nicht einmal ein Räuspern.
»Wir sind viermal so viele Männer wie Frauen. Ich erwarte von den Männern, daß sie sich vernünftig benehmen und die Ziele der Expedition über ihre privaten Gelüste stellen. Doktor Reed und Doktor Yang, unsere beiden Ärzte, haben Medikamente, die den Geschlechtstrieb unterdrücken. Sie können sich ganz privat und vertraulich an sie wenden, wenn es nötig ist.«
Jamie fragte sich, wie privat und vertraulich es unter fünfundzwanzig Männern und Frauen zugehen konnte, die fast zwei Jahre lang in zwei Raumschiffe eingesperrt sein würden.
Li ließ den Blick über die versammelten Mitglieder seiner Teams schweifen und fügte dann hinzu: »Eines möchte ich ausdrücklich klarstellen: Weder ich noch die Flugkontrolleure werden zulassen, daß sexuelle Probleme den Erfolg dieser Expedition gefährden. Wenn einer von Ihnen seinen Geschlechtstrieb nicht kontrollieren kann, muß er Medikamente einnehmen. Ist das klar?«
Und was ist mit den Frauen, hätte Jamie am liebsten gefragt. Aber er tat es nicht. Ediths Bild erschien vor seinem geistigen Auge, aber er ertappte sich dabei, wie er ganz leicht den Kopf wandte und zu Joanna hinüberschaute, die gleich links von ihm in der Reihe vor ihm stand.
»Also schön. Ich werde jetzt die Männer vorstellen, die unsere Schiffe fliegen und — sobald wir den Mars erreicht haben — unsere diversen Teams leiten werden.«
Während Li die Astronauten und Kosmonauten vorstellte, fragte sich Jamie, was passieren würde, wenn ein Mann Ärger machte und sich dann weigerte, die verordneten Medikamente zu nehmen. Was können sie tun, wenn wir Millionen von Kilometern weit draußen im All sind?
2
Nach den Vorstellungen teilte sich die Gruppe in kleinere Einheiten auf. Jamie gesellte sich zu seinen Wissenschaftlerkollegen und den beiden Männern, die zu ihren Piloten und Teamleitern ernannt worden waren. Sie versammelten sich an der gekrümmten Wand an einem Ende der Plattform, auf der Dr. Li stehenblieb.
Die Wissenschaftler bewegten sich vorsichtig über den mit Schlaufen versehenen Boden, wie Menschen in einem Traum oder wie Trinker, die ihre Würde und Selbstbeherrschung zu bewahren versuchten. Jamie sah, daß die Astronauten und Kosmonauten sich lässig von den Wänden oder dem Boden abstießen und ohne jede Anstrengung zu den Wissenschaftlergrüppchen hinüberglitten, die sich bildeten, um mit ihnen zu sprechen. Unverschämte Anmut, dachte Jamie. Das war eine Formulierung aus einer Geschichte, die er vor Jahren in seinem Erstsemesterkurs in Anglistik gelesen hatte. Einer der Russen schwebte über ihn hinweg und schaute mit wölfischem Grinsen auf die taumelnden, schwankenden Wissenschaftler hinunter. Unverschämte Anmut.
Jamie bemühte sich, zu Joanna zu kommen. Er gelangte neben sie und berührte sie an der Schulter ihres Overalls. Sie fuhr überrascht zusammen, erbleichte dann merklich und schlug eine Hand vor den Mund.
»Tut mir leid«, sagte Jamie mit leiser Stimme. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Joanna schluckte schwer. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Einen Moment … es geht gleich wieder …«
»Ich wollte Ihnen nur danken, daß Sie mir geholfen haben, hierherzukommen«, sagte Jamie. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Immer noch blaß, erwiderte sie: »Professor Hoffmann mußte aus dem Team entfernt werden. Mit ihm wäre es auf gar keinen Fall gegangen.«
»Ich bin sehr froh, daß ich hier bin«, wiederholte Jamie. »Welche Rolle Sie auch immer dabei gespielt haben, muchas gracias.«
Sie lächelte schwach und erwiderte auf Portugiesisch: »Por que?«
Dann wandte sie sich von ihm ab und stellte sich zu der hochgewachsenen Ilona Malater, die selbst in dem schlichten beigen Overall wie eine Königin aussah. Die Wissenschaftler steckten ihre Füße mit der unbeholfenen Sorgfalt von Neuankömmlingen in die Schlaufen auf dem Boden. Der russische Kosmonaut und der amerikanische Astronaut, beide in brauner Hose und braunem Pullover, hingen mühelos vor ihnen in der Luft.
Nachdem es den vier Wissenschaftlern — einem Geologen, einer Mikrobiologin, einer Biochemikerin und einem Arzt — endlich gelungen war, in den Fußfesseln sicheren Halt zu finden, richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf den Astronauten und den Kosmonauten, die ihr Team leiten würden.
»Ich bin Mikhail Andrejewitsch Wosnesenski«, stellte sich der Kosmonaut vor. »Ich bin der befehlshabende Pilot des ersten Landeteams.« Er sprach perfekt Englisch, ohne die Spur eines Akzents, mit einer schweren Baßstimme.