Aber wenn nicht? Ein Teil von ihm wollte, daß der Stein Leben trug. Wenn sie wirklich Leben gefunden hatten, würde das die Aufmerksamkeit der Medien mit Sicherheit von diesem Indianerthema ablenken, erkannte er, als er allein am Eßtisch in der Messe saß und sich methodisch durch das fade Mikrowellengericht arbeitete.
Er stand auf und brachte seine halbleere Schale zum Recycler, kratzte das Essen in den Abfallschacht und stellte Schale und Besteck dann in den Spülständer. Jemand hatte ein Band aus der Swing-Ära eingelegt: Eine Klarinette klagte herzerweichend eine alte bekannte Ballade.
Gelächter stieg von der anderen Seite der Kuppel auf; Männer, die miteinander scherzten. Er erkannte Patels hohe, schrille Stimme. Sein Geologenkollege hatte etwas lustig gefunden. Mit wem amüsierte er sich da? Mit Reed? Naguib? Toshima? Es klang, als wären sie alle zusammen in einem der Laborbereiche.
Wosnesenski und die drei anderen Piloten saßen an einer der Kommunikationskonsolen. Auf dem Bildschirm war eine topographische Karte zu sehen. Sie planen die erste Überland-Exkursion, dachte Jamie, als er an ihnen vorbeiging.
»Waterman, kommen Sie her und sehen Sie sich das an«, rief Wosnesenski. »Die neuesten Aufnahmen von den Badlands.«
Jamie trat zu ihnen und sah, daß es sich bei dem Bild auf dem Monitor um eine Höhenlinienkarte handelte, die man über ein Foto der Noctis-Labyrinthus-Region etwas weniger als dreihundert Kilometer südlich gelegt hatte. Er zog sich einen Stuhl von der Überwachungsstation neben der Konsole heran und setzte sich zu der kleinen Gruppe.
Noctis Labyrinthus. Die Badlands. Ein richtiges Labyrinth miteinander verbundener Canyons und Kraterketten, Hunderte von Kilometern langer Verwerfungslinien, die den Boden wie riesige Spalten kreuz und quer durchzogen, und eingestürzter Canyonwände mit möglicherweise von fließendem Wasser verursachten Erdrutschen.
Das Labyrinth lag am westlichen Ende der titanischen Valles Marineris, des Grand Canyon des Mars, die sich über mehr als viertausend Kilometer erstreckten und an manchen Stellen so breit waren, daß ein Beobachter, der am Rand der sieben Kilometer tiefen Schlucht stand, die andere Seite nicht sehen konnte. Die Valles Marineris — benannt nach der Raumsonde Mariner 9, die den gewaltigen Grabenbruch entdeckt hatte — waren länger, als Nordamerika breit war, und tiefer als der Atlantik. Ihr westliches Ende stieß an die gewaltige Aufwölbung des Tharsis-Buckels, eine ungeheure Felsblase von der Größe Europas, über der sich zehn Kilometer hoch drei Schildvulkane erhoben, höher als jeder Vulkan der Erde.
Wo die tief eingeschnittenen Valles Marineris auf das massive Felsgestein des Tharsis-Buckels treffen, liegt das ausgedehnte Schluchten-Krakelee der Badlands von Noctis Labyrinthus. Aus dem Orbit hat es fast den Anschein, als wäre der tiefe Riß im Boden von der Aufwölbung gestoppt worden und zersplittert wie ein Rammbock an einem Bronzetor.
»Wir überlegen uns gerade die Route für die erste Exkursion«, sagte Wosnesenski, als Jamie vor dem Bildschirm Platz genommen hatte.
Jamie sah die vier Flieger an. Wosnesenski wirkte brütend und melancholisch, wie üblich. Mironow lächelte wie jemand, der sich langweilt oder verlegen ist. Connors hielt den Blick konzentriert auf das Kartenbild gerichtet, als wollte er es sich einprägen. Paul Abell hatte einen verwirrten, merkwürdigen Ausdruck auf seinem Froschgesicht.
Jamie tippte mit einem Fingernagel auf den Bildschirm und sagte: »Ich würde gern dorthin fahren, genau an diese Stelle.«
Abell sagte: »Das ist nicht ganz die Stelle, die Pater DiNardo in seinem Missionsplan angegeben hat, oder?«
»Nicht ganz. Ich habe während des gesamten Flugs hierher über diese Exkursion nachgedacht. An dieser Stelle gibt es eine Verzweigung. Von dort aus kann ich mir drei Canyons ansehen.« Jamie beugte sich so weit vor, daß er die Tastatur erreichte, und rief eine Vergrößerung der Region auf. »Sehen Sie? Da ist eine Rutschung. Und dort sind deutliche Bruchlinien …«
»Ja, ja«, sagte Wosnesenski ungeduldig. »Das läßt sich machen. Wir können Sie dorthin bringen.«
»Gut.«
»Ich habe beschlossen, den Rover selbst zu fahren«, sagte Wosnesenski.
Jamie warf einen Blick zu Connors. Der Amerikaner schien nicht überrascht zu sein. Jamie erkannte, daß er den Blick nicht vom Bildschirm genommen hatte, weil er wütend war. Die Lippen des Astronauten waren zu einem grimmigen, dünnen Strich zusammengepreßt.
»Ich dachte, der Missionsplan sieht vor, daß Pete den Rover fährt.«
»Ich habe den Plan geändert«, sagte Wosnesenski unumwunden.
»Warum?«
»Das hat nichts mit Pete zu tun. Er wird nach wie vor eine der anderen Exkursionen leiten und den Schwebegleiter fliegen.«
»Aber warum haben Sie den Missionsplan geändert?« fragte Jamie hartnäckig.
Mironows Lächeln war allmählich verblaßt. Er sagte: »Es hat keine politischen Gründe, das versichere ich Ihnen.«
Was Jamie sofort auf den Gedanken brachte, daß ausschließlich Nationalstolz und politische Konkurrenz dahintersteckten. Oder zumindest eine Form der Rivalität zwischen den Russen und den Amerikanern.
Schließlich meldete sich Connors zu Wort. »Ist schon in Ordnung, Jamie. Wir haben es durchgesprochen. Mike will einfach die erste Exkursion selbst leiten.« Der Astronaut zwang sich zu einem humorlosen Grinsen und fügte hinzu: »Kommt von Mikes Gotteskomplex. Er hat Angst, daß irgendwas schiefgeht, wenn er nicht dabei ist und den Laden schmeißt.«
Mikhail Wosnesenski lächelte ebenfalls gezwungen. »Ich habe nicht vor, den Schwebegleiter zu fliegen. Diese Ehre gebührt Ihnen ganz allein.«
Connors nickte und drehte sich wieder zum Bildschirm um.
»Brechen wir wie geplant zu der Exkursion auf?« fragte Jamie.
»In zwei Tagen, ja.«
»Die einzige Änderung ist«, sagte Mironow, »daß Mikhail Andrejewitsch die Rolle des Chauffeurs übernimmt.«
»Weiß Doktor Li darüber Bescheid?« fragte Jamie.
»Er wird es noch erfahren. Ich glaube nicht, daß er etwas dagegen hat«, antwortete Wosnesenski.
Achselzuckend sagte Jamie: »Na, dann ist ja wohl alles in Ordnung.«
Mironow stand auf, und Wosnesenski erhob sich einen Sekundenbruchteil nach ihm ebenfalls schwerfällig von seinem Stuhl. Einen verrückten Augenblick lang hatte Jamie den Eindruck, das Mironow das Kommando hatte, nicht Wosnesenski. Er erinnerte sich vage, daß die Russen früher immer politische Offiziere unter ihren Leuten gehabt hatten, die untergeordnete Positionen bekleideten, aber die eigentlichen Bosse waren.
Als die beiden Russen weggingen, sagte Connors ernst: »Hören Sie, Jamie, das letzte, was ich will, ist, daß hier eine Rivalität zwischen Russen und Amerikanern ausbricht.«
»Aber warum hat er das getan?« fragte Jamie.
Connors legte die Unterarme auf die Knie und antwortete: »Ich glaube, er hat wirklich einen Gotteskomplex. Er glaubt, solange er das Kommando führt, wird nichts schiefgehen. Es ist die erste Überlandfahrt, und er ist nervös.«
Abell machte ein skeptisches Gesicht, schwieg jedoch.
»Stört es Sie nicht, daß Sie ausgebootet werden?« fragte Jamie.
Connors lehnte sich wieder zurück, weg von ihm. »Klar stört es mich! Verdammt, wen würde das nicht stören? Aber wie er schon gesagt hat, es gibt noch weitere Exkursionen. Soll er ruhig die erste übernehmen; das ist okay. Ich fliege den Schwebegleiter. Davon wird er mich nicht abbringen.«
Abell grunzte. »Unser Freund Mike darf also den lieben Gott spielen, aber er erlaubt dir, der Engel zu sein.«
Connors klopfte Abell auf die Schulter und stand auf. Abell ging mit ihm. Jamie blieb allein vor dem Bildschirm sitzen. Er machte sich weniger Gedanken darüber, wer den verdammten Rover fuhr, als darüber, was sie finden würden, wenn sie an die Kreuzung dieser drei Canyons gelangten.
Schließlich schaltete er den Monitor aus und stand auf. Er ließ den Blick durch das Innere der Kuppel wandern und sah, daß die Frauen immer noch am Biologietisch saßen, aber sie unterhielten sich jetzt miteinander und beugten sich nicht mehr über die Geräte. Die Musik hatte aufgehört; es war still in der Kuppel. Joanna sah müde aus.