Jamie ging zu ihnen hinüber, aber sie schienen ihn nicht zu bemerken. Sie saßen auf den zierlichen, für die Marsschwerkraft konzipierten Stühlen und unterhielten sich ernst miteinander.
»Na, wie steht’s?«
Ilona drehte sich auf ihrem Stuhl um und warf ihm einen bitteren, finsteren Blick zu. »Es ist anorganisch.«
»Du hattest recht«, sagte Joanna. »Es ist nur oxidiertes Kupfer.«
Selbst die ansonsten fröhliche Monique wirkte niedergeschlagen. »Überhaupt keine organischen Stoffe, weder im Stein selbst noch in den Bodenproben. Keine langen Molekülketten.«
Jamie balancierte auf seinen Fußballen, als wäre er bereit zu kämpfen oder zu fliehen, je nach Lage der Dinge. Dann können Sie mir den Stein ja jetzt geben, damit ich sein Alter ermitteln und feststellen kann, wie lange er schon an der Oberfläche liegt.
»Aber Wasser«, hörte er sich sagen.
»Ja, Permafrost«, sagte Ilona. »Ab ungefähr einem Meter unter der Oberfläche.«
Monique schüttelte den Kopf. »Das Wasser ist gefroren, nicht flüssig. Deswegen ist es für biologische Reaktionen nur schwer zu gebrauchen.«
»Und das Erdreich ist darüber hinaus voller Peroxide«, ergänzte Ilona. »In so einer aggressiven Umgebung können lebende Zellen nicht existieren.«
»Irdische lebende Zellen«, sagte Jamie. »Wir sind hier auf dem Mars.«
»Was du nicht sagst.« Ilona lächelte dünn. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es überhaupt irgendwelche lebenden Zellen gibt, die in einer Hölle aus rostigem Eisen existieren.«
»Anaerobe Bakterien tun das auf der Erde«, warf Monique ein.
»Ohne Zugang zu Wasser?«
»Ah ja, da hast du auch wieder recht.«
Jamie schaute Joanna in die Augen. Er sah mehr als Müdigkeit darin; sie sah besiegt aus. Wie ein Frau, die sich durch einen Dschungel gehackt hatte und dann feststellte, daß sie im Kreis gelaufen und wieder am Ausgangspunkt angelangt war.
»Na ja, es war erst unser erster Versuch dort draußen«, sagte er. »Niemand von uns hat doch damit gerechnet, daß wir auch nur Kupfer finden würden, oder?«
Moniques Miene hellte sich auf. »Irgendwo im Boden muß es organische Stoffe geben! Schließlich haben die unbemannten Sonden Steine zurückgebracht, die organische Verbindungen enthielten.«
»Der Marsboden wird seit Ewigkeiten von Meteoriten bombardiert«, sagte Ilona, als wollte sie sich selbst überzeugen. »Einige dieser Meteoriten müssen kohlenstoffhaltige Chondrite gewesen sein!«
Jamie nickte zustimmend. »Vielleicht sind die Einschlagstellen chondritischer Meteoriten die Zentren, an denen die Lebensprozesse begonnen haben.«
»Wenn die organischen Verbindungen in den Meteoriten nicht von der Hitze des Einschlags vernichtet worden sind«, flüsterte Joanna beinahe.
»Ja. Das könnte sein, nicht wahr?«
»Wir müssen den Einschlagstellen eine neue Priorität auf der Liste unserer Ziele einräumen«, sagte Monique langsam.
Ilona drehte sich nachdenklich um. »Wenn Lebensprozesse an solchen Einschlagstellen begännen, hätten sie sich über die gesamte Oberfläche des Planeten ausgebreitet, oder nicht? Schließlich ist das Leben ein dynamischer Prozeß. Es bleibt nicht an einem Ort. Es breitet sich aus. Es wächst.«
»Nur wenn es die Nährstoffe und die Energie findet, die es dazu benötigt«, sagte Monique. »Sonst …«
»Sonst stirbt es«, sagte Joanna mit leiser, erschöpfter Stimme. »Oder es fängt gar nicht erst an zu leben.«
Jamie und die anderen verstummten.
»Selbst wenn seit urdenklichen Zeiten Meteoriten mit Aminosäuren und anderen langkettigen Kohlenstoffmolekülen vom Himmel regnen«, fuhr Joanna so leise fort, daß Jamie sie kaum hören konnte, »worauf treffen sie, wenn sie die Oberfläche erreichen? Auf starke ultraviolette und noch härtere Strahlung, Temperaturen tief unter dem Gefrierpunkt bei Nacht, Peroxide im Erdreich, kein flüssiges Wasser …«
Jamie gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. »Moment. Selbst ein kleiner Meteorit wie der, den wir in der Antarktis gefunden haben, würde mit genügend Energie auf den Boden treffen, um den Permafrost zu verflüssigen, wenn das Eis nur rund einen Meter unter der Oberfläche liegt.«
»Ja«, sagte Ilona. »Aber wie lange würde das Wasser flüssig bleiben?«
»Ihr habt gesehen, was heute dort draußen geschehen ist«, sagte Monique. »In dieser dünnen Atmosphäre verdunstet das Wasser sofort.«
Jamie nickte widerstrebend.
»Es gibt kein Leben auf dem Mars«, sagte Joanna. »Überhaupt keins.«
»Du bist müde«, sagte Monique. »Wir alle sind müde. Wir müssen uns richtig ausschlafen. Morgen früh sieht alles schon wieder viel besser aus.«
»Ja, Mama«, sagte Ilona grinsend.
»Aber erst geben wir unseren Sämlingen mal ein bißchen Wasser, hm?« sagte Monique. »Dann können wir Schlafengehen.«
Joanna versuchte sie anzulächeln, aber es gelang ihr nicht ganz. Jamie erkannte, daß sie gern imstande gewesen wäre, ihrem Vater zu erzählen, daß sie Leben gefunden hatte. Für Joanna zählte niemand anders, nur ihr Vater. Sie wollte ihm diesen Triumph schenken. Jetzt hatte sie das Gefühl, versagt zu haben.
Er hätte ihr gern den Arm um die Schultern gelegt und ihr gesagt, daß es nicht so schlimm war, daß es nach wie vor wichtige und wunderbare Dinge auf dem Mars zu tun gab, auch wenn sie nicht die große Entdeckung gemacht hatte. Selbst wenn der Planet völlig tot sein sollte, konnte allein schon diese Information der Wissenschaft entscheidende Kenntnisse über die Bedürfnisse und Triebkräfte des Lebens liefern. Er merkte, daß er sie in den Armen halten, sie trösten, ihr etwas von seiner Kraft abgeben wollte.
Aber in Joannas Leben war kein Platz für ihn. Ihre Seele gehörte ihrem Vater. Alles, was sie tat, tat sie ausschließlich für ihren Vater.
Jamie spürte eine schwelende Eifersucht auf einen Rivalen, der hundert Millionen Kilometer entfernt war, einen Rivalen, gegen den er nicht die geringste Chance hatte.
WASHINGTON
DAS WEISSE HAUS
In längst vergangenen Jahren war der Kartenraum von Franklin Delano Roosevelt als Lageraum benutzt worden, in dem er den Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatte verfolgen können. Er lag im Erdgeschoß des zentralen Teils des klassizistischen Baus und war vom Oval Office aus leicht zu erreichen, sogar mit dem Rollstuhl.
Jetzt benutzte der Präsident den Raum für seine wöchentlichen privaten Mittagessen mit der Vizepräsidentin, eine Tradition, die keiner von ihnen sonderlich schätzte.
Das Duo — der erste Latino-Präsident und die erste Frau, die das Vizepräsidentenamt bekleidete — hatte von der vorherigen Administration ein Marsprogramm geerbt, das sie gestrichen hätten, wenn es nicht schon zu weit gediehen gewesen wäre, als daß man es noch hätte stoppen können. Statt dessen arbeiteten sie nun darauf hin, daß man das Verdienst für die erste Landung von Menschen auf dem Mars ganz allein ihnen anrechnete, während sie die Ausgaben für das Programm zugleich bis zum Gehtnichtmehr beschnitten. Innerhalb der Bandbreite des politischen Zynismus war der ihre allerdings fast nicht der Rede wert.
Sie waren ein merkwürdiges Paar. Der Präsident war rundlich und kahlköpfig; er hatte einen dunklen Schnurrbart und große, weiche braune Augen. Seine Haut war nicht so dunkel, daß sie Wähler, die nicht dem Latino-Lager angehörten, abgeschreckt hätte. Im Fernsehen sah er wie ein freundlich lächelnder Onkel oder vielleicht wie der nette Kerl aus, der den Eisenwarenladen führte. Die Vizepräsidentin war drahtig, aschblond und streitbar. Wenn sie die Stimme erhob, klang diese so schrill und durchdringend wie ein Zahnarztbohrer.