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Alle zwei oder drei Tage erhielt er einen Anruf von DiNardo, der sich mittlerweile von seiner Operation erholt hatte. Der Jesuit gab ihm einen Überblick über die Arbeit, die in mehreren Labors auf der Erde vonstatten ging, die weitere Analyse der Steine und Bodenproben, die von den unbemannten Robot-Explorern vom Mars mitgebracht worden waren. Die diversen Analysen unterschieden sich nur in winzigen Details: Alle Bodenproben waren steril, obwohl ein paar Steine Spuren von organischen Stoffen enthielten, kohlenstoffreiche chemische Verbindungen, bei denen es sich möglicherweise um die Vorläufer lebender Organismen handelte.

Die Grundstoffe des Lebens mögen in diesen Steinen vorhanden sein, aber das ist ungefähr so aufregend, als sähe man sich die Flaschen mit Aspirintabletten in der Vitrine eines Drugstores an. Sie haben nichts Lebendiges in den Proben gefunden, nicht mal eine Amöbe.

Als sie schon fast vier Monate unterwegs waren, fragte Jamie plötzlich: »Wie geht es Professor Hoffmann? Arbeitet er an diesen Analysen mit?«

Es dauerte mehrere Minuten, bis die Botschaften die Distanz zwischen den Raumschiffen und der Erde überwunden hatten. Während Jamie auf den kleinen Bildschirm der Kommunikationskonsole blickte, sah er, wie sich auf DiNardos dunkelbraunem Gesicht Überraschung und dann noch etwas anderes abzeichnete. Schuldbewußtsein? Der Priester fuhr sich mit einer Hand über den rasierten Schädel, bevor er antwortete.

»Professor Hoffmann hat offenbar einen Nervenzusammenbruch erlitten. Er ist momentan in einem Sanatorium in Wien.«

Jamie merkte, wie die gleiche Überraschung, die sich in Schuldbewußtsein verwandelte, in seinen Eingeweiden zu brennen begann.

»Ich habe ihn besucht«, fuhr DiNardo fort. »Seine Ärzte versichern mir, daß er in ein paar Wochen oder so wieder auf dem Damm sein wird.«

Ich möchte wissen, wie ich darauf reagiert hätte, wenn ich in letzter Minute aus dem Team geflogen wäre, dachte Jamie. Er wechselte das Thema, kam wieder auf geologische Fragen zu sprechen und beendete die Unterhaltung mit dem Priester, so schnell es ging.

Er verließ die Kommunikationskonsole vorn auf dem Flugdeck und eilte durch das ganze Habitatmodul zum Beobachtungsfenster zurück. Nach einer unausgesprochenen Übereinkunft galt die Sektion mit dem Fenster als Privatraum. Immer wenn jemand hineinging und die Luke schloß, die sie vom übrigen Modul trennte, ging kein anderes Mitglied der Besatzung hinein. Es war der einzige Ort an Bord des Marsschiffes, wo man allein sein konnte.

Jamie mußte allein sein, fern von all den anderen. Doch als er den engen Gang entlangeilte, spürte er, wie ihn auf einmal eine Woge des Zorns überflutete. Kein Schuldgefühl. Kein Mitleid. Zorn. Immer müssen sie einem irgendwas wegnehmen, hörte er eine Stimme in seinem Kopf klagen. Sie gönnen dir nie den ganzen Kuchen; sie lecken immer vorher den Zuckerguß ab. Oder pissen drauf. Ich bin also auf dem Weg zum Mars, und Hoffmann ist in der Klapsmühle. Na toll.

Dann erinnerte er sich an eine viele Jahre zurückliegende Begebenheit mit seinem Großvater, als er selbst noch ein eifriger junger Schüler an der Highschool gewesen war, der es gar nicht hatte erwarten können, ihm zu zeigen, wieviel er in seinen naturwissenschaftlichen Kursen gelernt hatte. Er hatte versucht, Al die Gesetze der Thermodynamik zu erklären, und dabei mit Begriffen wie ›Entropie‹, ›Temperaturgefälle‹ und thermisches Gleichgewicht um sich geworfen.

»Ach, damit kenne ich mich aus«, hatte Al gesagt.

»Tatsächlich?« Jamie hatte die Behauptung seines Großvater ungläubig und mit äußerster Skepsis zur Kenntnis genommen.

»Klar. Passiert jeden Tag im Laden. Oder wenn ich Poker spiele. Worauf es hinausläuft, ist: Man kann nicht gewinnen, man kann nicht mal seine Unkosten reinholen, und man kann auch nicht aus dem Spiel aussteigen.«

Jamie hatte seinen Großvater mit offenem Mund angestarrt. Al hatte ihm die kürzeste und bündigste Erklärung der Begriffe der Thermodynamik geliefert, die er je zu hören bekommen hatte.

»Die Hauptsache ist«, hatte Al grinsend zu seinem verblüfften Enkel gesagt, »daß man mit dem Leben im Gleichgewicht bleibt. Dann kann einen nichts umwerfen, was auch passiert. Bleib im Gleichgewicht. Beug dich nie so weit in eine Richtung, daß ein Windstoß dich umblasen kann.«

Worauf es hinausläuft, ist, daß man für alles bezahlen muß, was man bekommt, und daß der Preis immer höher ist als der Wert dessen, was man haben möchte. Und man kann nicht aus dem Spiel aussteigen. Selbst Millionen von Kilometern von der Erde entfernt kann man nicht aus dem Spiel aussteigen.

Die Luke zum Observationsraum stand offen. Es war niemand da. Gut.

Die Astronomen haßten die Rotation, die in den Marsschiffen ein Gefühl von Schwerkraft erzeugte. Ihretwegen mußten die Teleskope — auch wenn sie auf dem Verbindungsseil im Rotationspunkt angebracht waren — auf komplizierten motorisierten Lagern montiert werden, die sich genau gegenläufig zu der Rotation bewegten, damit sie wochen- oder monatelang auf den gleichen fernen Lichtpunkt gerichtet blieben.

Jamie hatte die Rotation anfangs ebenfalls gestört. Die Sterne zogen in einer langsamen, stetigen Prozession an dem rechteckigen Fenster vorbei, statt vor dem dunklen Hintergrund stillzustehen, wie sie es auf der Erde taten. Aber in Wirklichkeit stehen sie ja auch auf der Erde nicht still, sagte sich Jamie. Sie ziehen nur so langsam über den Himmel, daß man es nicht bemerkt. Hier draußen haben wir die Sache nur beschleunigt. Wir haben unsere eigene kleine Welt geschaffen, und die dreht sich alle zweieinhalb Minuten statt alle vierundzwanzig Stunden einmal um die eigene Achse.

Es war kalt in der Beobachtungssektion. Er wußte, daß er sich das nur einbildete, aber die Kälte dieser tiefen, leeren Dunkelheit da draußen schien durch das Fenster hereinzusickern und bis in seine Knochen zu dringen.

Es war schon jemand da. Als Jamie durch die offene Luke trat, sah er die hochgewachsene, geschmeidige Gestalt von Ilona Malater an dem langen Fenster stehen. Sie schaute zu den Sternen hinaus. Ihr Gesicht war ernst und unbewegt. In dem schwachen Licht sah ihr honigfarbenes Haar grau aus, und ihr brauner Overall wirkte nahezu farblos.

Als Jamie sich dem Fenster näherte, war er beinahe froh, daß noch jemand da war. Sein Wunsch, allein zu sein, verblaßte hinter seinem Bedürfnis nach menschlicher Wärme. Ihm kam zu Bewußtsein, daß Ilona groß und schlank genug für ein Spitzenmodel war. Zudem zeigte ihr aristokratisches Gesicht jenen Hochmut, der sich auf den Titelbildern von Zeitschriften so gut machte.

»Hallo«, sagte er.

Sie zuckte zusammen und fuhr herum, entspannte sich dann und lächelte. »Jamie. Was machst du denn hier?«

»Das gleiche wie du, schätze ich.«

»Ich dachte, das wäre mein privater Zufluchtsort.« Ilona hatte eine volltönende, kehlige Altstimme.

Mit einem trübseligen Grinsen sagte Jamie: »Ich auch.« Er zögerte und meinte dann: »Ich kann ja wieder gehen …«

»Nein, ist schon in Ordnung.« Sie erwiderte das Lächeln. »Vielleicht ist mein Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, doch noch stärker als mein Wunsch, allein zu sein.«

Das einzige Licht in dem Raum kam von den schwach leuchtenden Führungsstreifen am Boden. Und von den Sternen. Kaum genug, um ihr Gesicht zu sehen, den Ausdruck in ihren Augen zu erkennen. Das elektrische Summen, welches das Raumschiff erfüllte, schien hier schwacher, gedämpfter zu sein.

»Hast du das von Hoffmann gehört?« fragte Jamie.

»Was hat er denn jetzt wieder angestellt?«

»Er hatte einen Nervenzusammenbruch.«

Ilona zog eine Augenbraue hoch. »Geschieht ihm recht, dem Schwein.«

»Na, das ist ja vielleicht eine Einstellung!«

»Er war ein Aufreißer. Ich schätze, er ist der Schrecken aller Studentinnen, wo immer er unterrichtet.«