Jamie sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Er hatte in Hoffmann nie etwas anders als einen Geologen gesehen, der zwischen ihm und dem Mars stand.
»Er hat jede Frau zu verführen versucht, die er während des Trainings kennengelernt hat.«
»Hat er sich an dich auch herangemacht?«
Ilona lachte. »Er hat es versucht. Aber ich habe es ihm heimgezahlt. Ich habe ihn gefragt, wie er auf die Idee käme, daß er mich befriedigen könnte, wenn er es nicht mal bei seiner eigenen Frau brächte. Danach hat er nie wieder ein Wort mit mir gesprochen.«
Jamie fand das alles andere als komisch. In dieser Frau steckte eine Wildheit, von der er nie etwas geahnt hatte, eine brodelnde Wut.
Dann traf es ihn wie ein Schlag. »Er muß es auch bei Joanna versucht haben.«
»Ja. Natürlich.«
Deshalb wollte Joanna nicht, daß er mitflog, sagte sich Jamie. Nicht, weil sie mich an Bord haben wollte. Sondern weil sie einen Mann loswerden wollte, der sie belästigte.
Er fühlte sich auf einmal unwohl. Man konnte sich nirgends hinsetzen, außer auf den Metallboden, und es war niemand da, der einem Rückhalt geben konnte. Er schaute aus dem entspiegelten Fenster und sah nichts als die sternenübersäte Leere. Die Mars 2 war nicht zu sehen; sie befand sich über ihren Köpfen.
»Bist du wegen Hoffmanns Nervenzusammenbruch hier?« fragte Ilona.
Jamie nickte. »Und du?«
»Ich mußte mal weg«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Ich kriege allmählich Depressionen.«
»Warum? Was ist los?«
»Es ist der Mars. Ich bin hier am falschen Platz. Es war ein Fehler, eine Biochemikerin mit auf diese Expedition zu nehmen. Es gibt kein Leben auf dem Mars, das ich erforschen könnte.«
»Das wissen wir nicht genau«, sagte Jamie. »Noch nicht.«
»Nein?« Ilona sprach das Wort mit einem müden Seufzen aus. Dann drehte sie sich um und streckte den Arm zu einem leuchtenden, rötlichen Lichtpunkt aus, der in der gestirnten Schwärze vorbeizog.
»Schau dir den Planeten an, Jamie. Denk an all die Steine und Bodenproben und Fotos, die wir studiert haben. Jeden Tag bekommen wir neue Fotos von den Orbitern, die man in eine Umlaufbahn um den Planeten gebracht hat. Keine Spur von Leben. Nichts. Der Mars ist absolut unfruchtbar. Tot.«
Er wandte sich von dem roten Schimmer des Mars ab und konzentrierte sich wieder auf ihr bekümmertes Gesicht. »Aber wir haben erst ein paar Dutzend Proben bekommen. Du sprichst von einer ganzen Welt. Da muß es …«
Sie legte Jamie einen langen, manikürten Finger auf die Lippen und brachte ihn damit zum Schweigen. »Hast du schon mal was von Gaia gehört?« fragte Ilona.
»Die Vorstellung nämlich, daß die Erde ein lebendes Wesen ist?«
Ilona schenkte ihm ein knappes Lächeln. »Nah dran. Nicht schlecht für einen Geologen.«
Er ertappte sich dabei, daß er sie angrinste. »Na schön, was ist mit Gaia? Und was hat das mit dem Mars zu tun?«
»Die Gaia-Hypothese behauptet, daß alles Leben auf der Erde in einem sich selbst regulierenden Rückkopplungssystem zusammenwirkt, das sich selbst aufrechterhält. Keine einzelne Lebensform — einschließlich der menschlichen Rasse — lebt für sich allein. Alle Lebensformen sind Teil des Ganzen, Teil der vollständig integrierten lebenden Gaia.«
»Ich verstehe nicht, was das mit dem Mars zu tun hat«, sagte Jamie.
»Das Leben hat sich über den gesamten Erdball ausgebreitet«, erwiderte Ilona. »In den tiefsten Meeresgräben gibt es Leben. Die Luft wimmelt von Mikroorganismen, selbst hoch oben in der Stratosphäre fliegen Hefepilze herum. Noch in den lebensfeindlichsten Eiswüsten der Antarktis gibt es Steine mit Flechtenkolonien direkt unter der Oberfläche.«
»Und der Mars sieht unfruchtbar aus.«
»Der Mars ist unfruchtbar. Die Sonden haben nichts in der Luft gefunden. Es gibt kein flüssiges Wasser. Der Boden ist so stark mit Peroxiden versetzt, daß er fast schon ein starkes Bleichmittel ist; kein lebender Organismus könnte darin überleben.«
»Manche Steine enthalten organische Verbindungen«, rief Jamie ihr in Erinnerung.
»Aber wenn es auf dem Mars Leben gäbe, wäre es nicht auf einen Ort beschränkt!« Ilonas heisere Stimme war jetzt beinahe flehend. »Wenn es ein marsianisches Pendant zu Gaia gäbe, würden wir überall Leben sehen, wohin wir auch schauen, genau wie auf der Erde.«
Jamie schüttelte störrisch den Kopf. »Die Erde ist wärmer, auf der Erde gibt es überall flüssiges Wasser, wohin man auch schaut, es ist leicht für das Leben, auf der Erde zu wachsen und sich auszubreiten. Der Mars ist nicht so reich. Dort hätte es das Leben schwerer.«
Ilona schüttelte ebenfalls den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß der Mars aus diesem Grund so trostlos aussieht. Der Planet ist wirklich unfruchtbar. Es gibt dort kein Leben, und es hat wahrscheinlich auch nie welches gegeben. Ich habe die letzten drei Jahre meines Lebens vergeudet. Es war ein Fehler, Biowissenschaftler mitzuschicken.«
Sie stand dort, eingerahmt von dem rechteckigen Fenster, mit den langsam kreisenden Sternen hinter ihr. Ilona sah nicht mehr hochmütig oder königlich aus. Sie wirkte niedergeschlagen und entmutigt.
Jamie zuckte die Achseln und sagte leise: »Ich finde, man kann nicht schon aufgeben, bevor man überhaupt angefangen hat. Ganz gleich, was du glaubst, du kannst doch nichts Definitives sagen, bevor du nicht dort gewesen bist und selbst nachgesehen hast. Wahrscheinlich hat der Mars ein paar Überraschungen für dich auf Lager. Für uns alle.«
»Vielleicht.« Ilona seufzte erneut. Dann schlang sie die Arme um den Körper und erschauerte. »Es ist immer so kalt hier drin! Ich hätte meine Thermo-Unterwäsche anziehen sollen.«
»Tut mir leid, ich habe keinen Pullover und auch keine Jacke dabei …«
»Es ist meine eigene Schuld«, sagte sie. »Ich bin aus einer spontanen Eingebung heraus in diesem Overall hergekommen.«
Jamie grinste sie an. »Das ist gegen die Vorschriften. Wie oft hat Wosnesenski uns eingebleut: Denkt zehnmal nach, bevor ihr irgendwas tut.«
»Wosnesenski.« Sie knurrte den Namen wie eine fauchende Löwin.
»Was hast du gegen Mikhail?« fragte Jamie. »Ich finde ihn gar nicht so übel.«
»Er ist Russe.«
»Ja und?«
»Die Hälfte meiner Familie ist neunzehnhundertsechsundfünfzig von Russen ermordet worden. Meine Großmutter hat es gerade noch geschafft, aufs Land zu fliehen. Mein Großvater wurde gehängt. Die Russen haben ihn aufgehängt, als ob er ein übler Verbrecher gewesen wäre.«
»Da kann Wosnesenski doch nichts dafür. Rußland hat sich seit damals erheblich verändert. Genauso wie Ungarn. Das ist doch alles ein halbes Jahrhundert her.«
»Es ist leicht für euch Amerikaner, zu vergeben und zu vergessen. Für mich und meine Angehörigen ist das nicht so einfach.«
Jamie wußte nicht, was er sagen sollte. Es gibt nichts, was ich sagen kann, erkannte er. Etliche Augenblicke standen sie einander gegenüber, während die Sterne um sie herum ihre Kreisbahnen zogen und die elektrischen Geräte im Hintergrund leise vor sich hinsummten wie ein ferner Chor tibetischer Lamas, die ein Mantra intonierten.
Ilona fröstelte. »Es ist kalt hier oben.« Sie trat näher an Jamie heran, schmiegte sich an ihn.
»Wir könnten zurückgehen«, sagte Jamie. Aber er legte ihr einen Arm um die Taille. Irgendwie kam ihm das richtig vor.
»Nein, noch nicht. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagte Ilona. Ihre Stimme war leise und sinnlich. Ihr Gesicht war so nah an dem von Jamie, daß er den schwachen Duft ihrer honigblonden Haare riechen konnte.
»Sorgen? Um mich?«
»Du wirkst so … zurückgezogen. Einsam.«
Er zuckte die Achseln. »Wir sind weit weg von zu Hause.«
»Du meidest uns.«