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»Empfinden Sie überhaupt keine Verbitterung?«

Die Frage ließ Jamie innehalten. In Wirklichkeit wußte er nicht, was er empfand. Er hatte die Angelegenheit kaum je in einem solchen Licht betrachtet. War Großvater Al verbittert? Nein, er schien die Welt so zu nehmen, wie er sie vorfand.

»Benutze das, was du hast, Jamie«, hatte Al immer gesagt. »Wenn man dir eine Zitrone gibt, mach Limonade. Benutze das, was du hast, und mach das Beste aus dem, was du vorfindest.«

Nach einer Weile antwortete Jamie: »Mikhail, meine Eltern sind beide Universitätsprofessoren. Ich bin in New Mexico geboren und als Kind in den Sommerferien immer wieder dorthin gefahren, aber aufgewachsen bin ich in Berkeley, Kalifornien.«

»Eine Brutstätte des Radikalismus.« Wosnesenskis Stimme war ausdruckslos, als würde er eine auswendig gelernte Phrase aufsagen. Jamie konnte nicht erkennen, ob der Russe scherzte oder es ernst meinte.

»Mein Vater hat fast sein ganzes Leben lang versucht, kein Indianer zu sein, obwohl er das nie zugeben würde. Wahrscheinlich weiß er es nicht mal. Er hat ein Harvard-Stipendium bekommen. Er hat eine Frau geheiratet, die von den ursprünglichen Mayflower-Kolonisten abstammt. Keiner von ihnen wollte, daß ich Indianer bin. Sie haben mir immer gesagt, ich sollte statt dessen erfolgreich sein.«

»Ihre Eltern leugnen die Herkunft Ihres Vaters.«

»Sie versuchen es. Dads Stipendium stammte aus einem Programm, das vor allem dazu gedacht war, Minderheitengruppen zu helfen — zum Beispiel den amerikanischen Ureinwohnern. Und die Geschichtsbücher, die er geschrieben hat, werden von sämtlichen amerikanischen Universitäten erworben, und zwar hauptsächlich deswegen, weil sie die amerikanische Geschichte von einem Minoritätenstandpunkt aus darstellen.«

»Hmp.«

»Meine Eltern haben sich nie für Indianerbelange engagiert, und ich auch nicht. Wenn mein Großvater nicht gewesen wäre, wäre ich weißer als Sie. Er hat mich gelehrt, meine Herkunft zu verstehen und zu akzeptieren, ohne jemanden zu hassen.«

»Aber Malater, sie haßt mich.«

»Nicht Sie, Mikhail. Sie haßt die Russen als solche. Sie sieht Sie nicht als Individuum. In ihren Augen sind Sie ein Teil eines inhumanen Systems, das ihren Großvater gehängt und ihre Großmutter zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen hat.«

»Das ist keine große Hilfe«, sagte Wosnesenski leise.

»Genau wie die Leute, in deren Augen die Indianer eine gesichtslose Masse sind, in der sie keine Individuen und noch nicht mal einzelne Stämme wahrnehmen«, fuhr Jamie fort. »Es gibt eine Menge Weiße, die immer noch ›den Indianer‹ statt individueller Männer und Frauen sehen. Sie verstehen nicht, daß manche Menschen auf ihre eigene Weise leben und keine Weißen werden wollen

»Und Sie? Wie wollen Sie leben?«

Jamie brauchte nicht mehr darüber nachzudenken. »Ich stamme von Indianern ab. Meine Haut ist dunkler als Ihre. Aber wenn Sie unsere Gehirne aus unseren Schädeln herausholen würden, Mikhail, könnten Sie keinen Unterschied zwischen ihnen erkennen. Dort leben wir wirklich. In unserem Geist. Wir sind auf gegenüberliegenden Seiten der Welt geboren, und doch sind wir zusammen hier auf einem ganz anderen Planeten. Das ist es, was zählt. Nicht, was unsere Vorfahren einander angetan haben. Was wir jetzt tun. Darauf kommt es an.«

Wosnesenski nickte ernst. »Jetzt müssen Sie diese kleine Rede noch Ilona Malater halten.«

Jamie nickte nüchtern. »Okay. Vielleicht tue ich das.«

»Es wird nichts nützen.«

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte ihm Jamie zu. »Aber ein Versuch kann ja nicht schaden.«

»Vielleicht.«

Jamie kam plötzlich ein neuer Gedanke. »Mikhail — haben Sie deshalb beschlossen, mit mir auf diese Exkursion zu kommen, statt Pete fahren zu lassen? Um von Ilona wegzukommen?«

»Unsinn!« fauchte der Russe mit einer Vehemenz, die Jamie überzeugte, daß er auf die Wahrheit gestoßen war. Ilona verletzt ihn, erkannte er. Sie tut dem armen Kerl wirklich weh.

DOSSIER

M. A. WOSNESENSKI

»Warum kannst du nicht vernünftig sein, wie dein Bruder?«

Mikhail Andrejewitsch hatte diesen Ausruf seines Vaters sein ganzes Leben lang gehört, so schien es ihm. Nikolai war der ältere der beiden Jungen, das Musterkind der Familie. Er strengte sich in der Schule sehr an und hatte ausgezeichnete Noten. Er war ruhig; seine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, Bücher zu lesen. Er hatte nur wenige Freunde, und alle waren sie so fleißig und hatten ebenso gute Manieren wie Nikolai.

Mikhail, der zweite Sohn (es gab noch eine jüngere Tochter), schaffte die Schule spielend, warf aber kaum je einen Blick in die Schulbücher. Irgendwie bekam er stets gute Noten; nicht ganz so gute wie sein älterer Bruder natürlich, aber sie reichten für die Aufnahme an die Ingenieursakademie. Statt zu studieren, hörte Mikhail Musik, meistens importierten amerikanischen Rock. Der Lärm machte seinen Vater wahnsinnig. Mikhail hatte viele Freunde, Mädchen und Jungen, und sie hörten alle gern laute Rockmusik und zogen sich Blue Jeans und Lederjacken an.

Und er spielte. »Der Fluch der Russen«, nannte es sein Vater. Seine Mutter weinte. Mikhail spielte Karten mit seinen Freunden und manchmal mit älteren Männern, die sich gut kleideten und Gesichter aus Stein hatten. Seine Eltern befürchteten bereits das Schlimmste für ihn.

»Deine Mutter bekommt deinetwegen noch graue Haare!« rief sein Vater, als Mikhail verkündete, er werde sich ein Motorrad kaufen. Er hatte zwei Jahre lang heimlich gearbeitet, hatte seine Nachmittage in einer Autowerkstatt verbracht und dem Mechaniker geholfen, statt zur Akademie zu gehen. Irgendwie war es ihm trotzdem gelungen, seine Prüfungen zu bestehen. Aber der Verdienst für zwei Jahre Arbeit reichte nicht, um die hübsche Maschine zu kaufen, die er haben wollte. Da setzte Mikhail jeden Rubel bei einem Kartenspiel und schwor, daß er nie wieder spielen würde. Er gewann, hauptsächlich weil er größere Risiken einzugehen bereit gewesen war und mehr Geld einzusetzen gehabt hatte als die anderen Spieler in jener Nacht.

Er wahrte seine selbstauferlegte Disziplin und spielte nie wieder. Trotz der Einwände seines Vaters und der strömenden Tränen seiner Mutter kaufte er sich das Motorrad. Es interessierte sie nicht, daß Mikhail jetzt von ihrer Wohnung zu seinen Seminaren an der Akademie fahren konnte, ohne zwei Stunden pro Tag in Stadtbussen herumsitzen zu müssen. Sie sahen ihn nur mit hübschen jungen Mädchen durch die Straßen von Wolgograd rasen, die schamlos ihre Beine zeigten, wenn sie hinter Mikhail saßen, und ihn fest umklammerten.

Seine Mutter hatte bereits graue Haare, und sein Vater war beinahe völlig kahl. Der alte Mann war Staatsbeamter gewesen, einer der zahllosen Apparatschiks, die im Namen der Perestroika aus der Regierungsbürokratie geworfen worden waren und sich einen anderen Job hatten suchen müssen. Für kurze Zeit hatte er als Verwalter in einer der größten Fabriken in Wolgograd gearbeitet. Dann ging er in die Politik und wurde bald in den Stadtrat gewählt, wo er den Rest seines Arbeitslebens in behaglicher Anonymität verbrachte.

»Warum kannst du nicht vernünftig sein, wie dein Bruder?« rief sein Vater, als Mikhail erklärte, er werde Flugstunden nehmen. Er hatte in diesem Schuljahr gute Leistungen erbracht, hatte sogar einen akademischen Grad errungen, nachdem er den Mechanikerjob nun aufgegeben hatte.

Das war der Sommer, in dem Mikhail feststellte, daß er das Fliegen liebte und das Fliegen ihn. Er war gut darin, sehr gut. Er habe ein so natürliches Verhältnis zur Luft wie ein Adler, erklärte ihm sein Lehrer. Tatsächlich war er gerade in der Luft, auf seinem ersten Alleinflug, als sein älterer Bruder bei einem sinnlosen Unfall ums Leben kam. Ein betrunkener Lastwagenfahrer krachte in den Stadtbus, in dem er saß. Vierzehn Verletzte und ein Toter. Nikolai.