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Jamie baumelte in der Luft, drehte sich leicht in dem Geschirr, starrte auf die rötlichgraue Wand vor seinen Augen. Dieses Zeug ist hier, seit der Planet geboren wurde, seit er abgekühlt ist und sich verfestigt hat. Es könnte über vier Milliarden Jahre alt sein! Er keuchte, als wäre er eine Meile gelaufen, als hätte er gerade den wertvollsten Diamanten im Universum gefunden.

Auf der Erde gab es nichts dergleichen. Mantelgestein war immer unter einer kilometerdicken Kruste begraben. Selbst die Meeresböden waren mit Sedimenten bedeckt. Auf der Erde sah man nie freiliegendes Mantelgestein. Aber beim Mars ist das etwas anderes, sagte sich Jamie. Die alten Annahmen gelten hier nicht.

Er ist nicht differenziert, erkannte er. Deshalb ist so viel Eisen im Sand an der Oberfläche. Das Eisen ist nie in den Kern abgesunken wie auf der Erde. Es hat sich über die gesamte Oberfläche verbreitet. Warum? Und auf welche Weise?

Oben holte Wosnesenski eine automatische Sensorbake aus dem Laderaum des Rovers und machte sich daran, sie aufzustellen. Das Anemometer begann sich sofort zu drehen — sehr schnell, wie er zu seiner Überraschung sah. Die Luft war so dünn, daß sogar eine steife Brise nahezu unbemerkt blieb. Toshima wird sich freuen, Meldungen von einer weiteren Station zu erhalten, sagte sich Wosnesenski, als er das von einer Radionukleidbatterie betriebene Telemetriefunkgerät einschaltete.

Dann ging er zur Winde zurück. Er pflanzte seine kurzen Beine so fest wie die der Maschine auf den staubigen roten Boden und machte stundenlang Videoaufnahmen von dem gesamten Gebiet.

Jamie machte ebenfalls Aufnahmen mit dem Fotoapparat, den er an dem Gerätegürtel um seine Taille trug.

Als er sich der Sohle näherte, suchte er nach Spuren der eigentlichen Verwerfungslinie, die den Canyon geschaffen hatte. Vergeblich. Die Winde, die sich jedes Jahr zu planetenweiten Sandstürmen entwickelten, hatten den Boden des Canyons seit Ewigkeiten mit Staubablagerungen bedeckt. Jamie lächelte in seinem Klettergeschirr vor sich hin. Noch ein oder zwei Milliarden Jahre, und die Canyons sind aufgefüllt.

Er wollte nicht nach oben schauen, so lange er in dem Geschirr baumelte. Die Felswand ragte über ihm auf, viel zu hoch und zu steil, als daß man sie ersteigen konnte. Die anderen Wände waren kilometerweit entfernt, aber je tiefer Jamie kam, desto näher schienen sie zu rücken. In einem tiefen, der Vernunft nicht zugänglichen Teil seines Gehirns nisteten Furcht und das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Deshalb beschäftigte Jamie sich während des Abstiegs damit, Steinbröckchen abzuschlagen und den Grund des Canyons nach Hinweisen auf den ursprünglichen Riß im Boden abzusuchen, der ihn erzeugt hatte. Er fand keine.

Was hast du denn erwartet, fragte er sich. Etwas so Augenfälliges wie den San-Andreas-Graben?

»Es wird Zeit, daß Sie heraufkommen«, rief Wosnesenski. »Und zwar sofort.«

Unwillkürlich lehnte Jamie sich in dem Geschirr zurück und schaute nach oben. Einen schwindelerregenden Moment lang hatte er das Gefühl, als würde die Felswand kippen und auf ihn stürzen.

Aber er hörte sich nörgeln: »Ich bin noch gar nicht ganz unten!«

»Es wird dunkel.«

Jamie schwankte in seinem Geschirr hin und her. Er stellte fest, daß die Schatten von der gegenüberliegenden Wand des Canyons fast schon bei ihm waren. Er erschauerte. Mikhail hat recht; ich will nicht im Dunkeln hier unten sein.

»Okay, ich komme rauf«, sagte er in sein Helmmikrofon. Er merkte, wie sich das Geschirr um ihn spannte, als das Kabel ihn hochzuziehen begann. Er hielt sich mit beiden behandschuhten Händen an dem Kabel fest und versuchte, sich mit den Stiefeln an der Felswand abzustützen, während er nach oben stieg. Die Winde machte die gesamte eigentliche Arbeit.

Endlich kam er oben an. Die Sonne hatte fast schon den Horizont erreicht. Jamie fröstelte selbst in dem beheizten Anzug. Der Himmel im Osten war bereits dunkel.

Wosnesenski half ihm, das Geschirr und den Gerätegürtel abzunehmen; dann machten sie sich auf den Rückweg zum Rover.

Jamie hielt seinen Gefährten mit ausgestreckter Hand auf.

»Moment noch, Mikhail. Wir sind schon fast eine Woche auf dem Mars und haben uns noch nicht mal einen Sonnenuntergang angesehen.«

Der Russe gab einen Laut von sich, der zwischen einem Grunzen und einem Schnauben lag, aber er blieb stehen. Die beiden standen auf der weiten Marsebene, die Kletterausrüstung in den Händen, und sahen zu, wie die winzige, blasse Sonne den flachen Horizont berührte. Der Sonnenuntergang war nicht spektakulär. Keine flammenden Farben von atemberaubender Schönheit. Die Luft war zu dünn, zu trocken, zu sauber. Und doch …

Der rosafarbene Himmel wurde erst rot, dann violett, verdunkelte sich gleichförmig und gleichmäßig wie die Kuppel eines Planetariums, wenn das Licht heruntergedreht wird und schließlich erlischt.

»Schauen Sie!« Jamie zeigte zum Horizont, als die Sonne dahinter versank. Ein einzelner, einsamer Wolkenfetzen hing dort und glühte kurz auf, wie ein silberner Geist. Dann verschwand die Sonne ganz, und die Wolke verschmolz mit der allumfassenden Dunkelheit.

»Das ist schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können.« Wosnesenskis Stimme war so leise und sanft, wie Jamie sie noch nie gehört hatte.

»O ja. Ich möchte wissen …«

Die Worte blieben Jamie im Halse stecken. Sein Herz begann zu klopfen. Der Himmel schimmerte, glomm schwach, als würde ein Gespenst über ihnen schweben, ließ so blasse und zarte Farben aufflackern, daß Jamie einen atemlosen Moment lang seinen Augen nicht traute.

»Mikhail …«

»Ich sehe es. Polarlicht.«

»Wie das Nordlicht.« Jamies Stimme hatte vor Ehrfurcht einen hohlen Klang, und sie zitterte. Die Lichter — ganz und gar ätherische Pastelltöne von Pink, Grün, Blau und Weiß — pulsierten und wogten über den Himmel. Durch sie hindurch konnte er schwach die Sterne sehen.

»Aber der Mars hat doch gar kein Magnetfeld«, sagte Wosnesenski. Es klang eher verblüfft als beeindruckt.

»Genau das ist es«, hörte Jamie sich antworten. »Partikel des Sonnenwindes müssen auf dem ganzen Planeten auf die obere Atmosphäre treffen. Die Gase da oben glühen, wenn die Partikel sie erregen. Das muß überall geschehen, jede Nacht. Wir sind bloß noch nie lange genug draußen geblieben, um es zu sehen.«

»Müßte man es nicht aus der Umlaufbahn sehen können?« Mikhail war ein nüchternerer Wissenschafter als Jamie.

»Sicher nur ziemlich schwach, wenn man nach unten schaut, vor dem Hintergrund des Planeten.

Aber wenn sie wissen, wonach sie Ausschau halten müssen, werden Katrin Diels und Ulanow es bestimmt beobachten können.«

Die Farben verblaßten. Das Licht erlosch langsam, und der Himmel war wieder dunkel und ruhig. Jamie spürte, wie ihn ein Schauer überlief, obwohl er nicht sagen konnte, ob es Furcht oder Verzückung war. Wahrscheinlich von beidem etwas. Sein Pulsschlag dröhnte ihm immer noch in den Ohren. Wohin man auch schaute, war nun nichts mehr als absolute Dunkelheit, soweit das Auge reichte. Als wäre die Welt verschwunden, als stünde er allein in einem ganz eigenen Universum, in dem er kein anderes Lebewesen gab außer ihm.

Und die Sterne. Selbst durch das getönte Visier seines Helmes sah Jamie die hellen, unvergänglichen Sterne auf ihn herabschauen wie treue alte Freunde, die ihm sagten, daß sie selbst auf dieser seltsamen, leeren Welt dort oben an ihren Plätzen waren, die Wächter der universalen Ordnung.

Einer der Sterne bewegte sich sichtbar über den Himmel. »Ob das da unsere Schiffe im Orbit sind?« überlegte Jamie laut.

Wosnesenski lachte leise. »Das ist Phobos. Er ist so nah, daß er wie eine Raumstation aussieht, die von West nach Ost fliegt. Deimos ist so schwach, daß man ihn nur sieht, wenn man ganz genau weiß, wo man ihn suchen muß.«