»Sie bewegen sich auf dünnem Eis, Jamie.«
»Kann sein. Ich dachte, ihr Russen wäret alle große Spieler«, redete ihm Jamie zu.
Wosnesenski versteifte sich sichtlich. »Ich bin nicht hier, um zu spielen. Nicht mit Leben. Auch nicht mit meinem eigenen.«
»Aber es ist doch nun wirklich kein so großes Risiko«, drängte Jamie und änderte rasch seine Taktik. »Es ist machbar! Wir müssen uns nicht an die Pläne halten, die auf der Erde für uns entwickelt worden sind. Die Missionsbefehle räumen uns eine gewisse Flexibilität ein. Wir haben hier die Gelegenheit, eine äußerst wichtige Entdeckung in bezug auf die geologische Geschichte dieses faszinierenden Planeten zu machen.«
»Es ist ein unnötiges Risiko.«
Jamie zwang sich, den Russen anzugrinsen. »Sehen Sie’s doch mal so, Mikhail — wenn wir dabei umkommen, müssen Sie sich weder mit Doktor Li noch mit der Flugkontrolle in Kaliningrad herumärgern.«
Wosnesenski starrte ihn einen langen Moment an, dann bracht er in schallendes Gelächter aus. »Sie sind ja ein Fatalist!« sagte der Kosmonaut. »Genau wie ein Russe.«
»Also, machen Sie’s?«
»Es steht nicht auf dem Exkursionsplan.«
»Dann ändern wir den Plan eben«, sagte Jamie. »Der Rover hat die Reichweite, und wir haben genug Vorräte an Bord. Wenn wir steckenbleiben, kann Mironow mit dem anderen Rover kommen.«
Wosnesenskis fleischiges Gesicht nahm wieder den üblichen finsteren Ausdruck an. »Wir dürfen nicht vom Exkursionsplan abweichen«, sagte er. »Das ist nicht erlaubt.«
Jamie merkte, wie er sich innerlich anspannte. Langsam und bedächtig erhob er sich aus seiner Hockstellung. »In diesem Fall geben mir die Missionsvorschriften das Recht, mich über Ihren Kopf hinweg direkt an Doktor Li zu wenden«, sagte er ruhig. »Ich möchte mit Li sprechen.«
Immer noch finster dreinschauend, streckte Wosnesenski die Hand zur Kontrolltafel aus und schaltete die Kommunikationsanlage ein.
»Dann sprechen Sie mit dem Expeditionskommandanten«, knurrte er. »Soll er die Verantwortung übernehmen.«
»Zum Tithonium Chasma?« Dr. Li war überrascht. »Aber das ist tausend Kilometer von Ihrer gegenwärtigen Position entfernt.«
»Bis zum westlichen Rand sind es von unserer gegenwärtigen Position aus weniger als sechshundert Kilometer«, erwiderte James Waterman.
Li sank in seinen gepolsterten Sessel zurück. Er hatte sich in seine Privatunterkunft zurückgezogen, um den erwarteten Anruf von Wosnesenski entgegenzunehmen — zum Teil aus Bequemlichkeit, zum Teil aber auch, weil er das Gefühl hatte, mit allen auftauchenden Problemen leichter fertigwerden zu können, wenn die Techniker und die anderen Mitglieder des Teams nicht an der Kommunikationskonsole im Kommandozentrum des Raumschiffs um ihn herumstanden.
Seine Kabine war so luxuriös, wie es die Missionsvorschriften zuließen. Wie alle anderen Privatkabinen an Bord der beiden Marsschiffe war sie kaum groß genug für eine schmale Koje, einen winzigen Schreibtisch und einen einzelnen Sessel. Lis Sessel ließ sich jedoch wie die Beschleunigungsliege eines Astronauten nach hinten kippen. Er schlief oft darin, lieber als in der Koje, die er unangenehm kurz fand.
Während andere Teammitglieder ihre Kabinen mit Fotos ihrer Angehörigen, Marskarten oder sogar Computerausdrucken geschmückt hatten, hatte Li eine exquisite Reihe kleiner Seidenmalereien an seine Wände geklebt. Nebelverhangene Berge. Schöne Vögel, die auf einem grazilen Ast saßen. Eine Pagode an einem See. Erinnerungen an die Heimat. Selbst wenn er im All sterben sollte, so seine Begründung, wollte er diese trostreichen Gemälde um sich haben.
Aber er würdigte sie keines Blickes, als er nun auf den Bildschirm starrte, der seinen kleinen Schreibtisch beherrschte. Watermans breites Gesicht mit den Onyx-Augen sah ihm daraus entgegen. Ein Gesicht, das sehr stur sein konnte, wie Li feststellte.
»Ich möchte Ihnen so viel Spielraum wie möglich geben«, sagte Li, »aber drei zusätzliche Tage für Ihre Exkursion scheinen mir übertrieben zu sein.«
Er fügte nicht hinzu, daß Wosnesenski nicht einmal bei dieser Exkursion dabeisein sollte. Der Russe hätte im Basislager bleiben sollen, wie es der Missionsplan vorsah. Er überschritt bereits seine Direktiven.
»Es muß sein«, erwiderte Waterman. »Aus geologischen Gründen.«
Li hätte sich fast ein Lächeln erlaubt. Natürlich, aus geologischen Gründen. Selbstverständlich würde Waterman einen guten wissenschaftlichen Grund dafür haben, daß er die Grenzen versetzen wollte. Ein geborener Unruhestifter.
Li legte die Fingerspitzen im Schoß zusammen, außerhalb des Bildfelds der Kamera, und wartete auf die Erklärung des Geologen. Dieser schien vor Eifer zu bersten: Die schwarzen Augen waren groß und funkelnd, die Lippen leicht geöffnet, und die Energie leuchtete geradezu aus seinem dunkelhäutigen Gesicht.
»Wir haben die Treibstoffvorräte des Rovers berechnet, und sie sind mehr als ausreichend, um uns zur Tithonium-Region und wieder zur Basis zurückzubringen, Sir. Und inklusive einer großzügig bemessenen Reserve.«
Nun erlaubte sich Li doch ein dünnes Lächeln. Waterman denkt nur an die technische Seite. Für ihn sind die damit verbundenen politischen Probleme einfach nicht von Bedeutung. Ich frage mich, ob er überhaupt an sie denkt.
»Doktor Li, Sie verfügen ja über grundlegende geologische Kenntnisse …« Und ohne zu zögern stürzte sich Waterman in einen Vortrag über die Gesteinsformationen auf dem Mars.
Li hörte mit einem Ohr zu, während ein anderer Teil von ihm sich über die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit und die gedankenlose Arroganz dieses enthusiastischen jungen Mannes amüsierte, der den Älteren belehrte.
Der junge Narr begreift einfach nicht, daß er sich politisch auf furchtbar wackligem Boden bewegt. Er glaubt aufrichtig, daß Wissenschaft das einzige ist, was zählt. Li wünschte, er könnte solch ein unkompliziertes Leben führen, sich von solch einer ungebremsten Begeisterung leiten lassen und auf die Jagd nach Wissen gehen, ohne sich um diejenigen zu scheren, die das Geldsäckel kontrollierten — und die Ehrentitel vergaben.
Andererseits, überlegte er nüchtern, während Jamie mit seinem Nonstop-Vortrag fortfuhr, angenommen, er bringt sich da unten um? Dann wird er automatisch ein Held. Und hört auf, ein Problem zu sein. Höchstwahrscheinlich würde er Wosnesenski ebenfalls umbringen, aber da konnte man nun mal nichts machen.
Li schüttelte sich, als er erkannte, wohin ihn solche Gedanken führten. Meine Aufgabe besteht darin, sagte er sich streng, die Erforschung des Mars zu leiten und dafür zu sorgen, daß die Wissenschaftler ihre Forschungsarbeiten so ungestört wie möglich durchführen können. Waterman will sein Arbeitsfeld weiter ausdehnen und schneller vorgehen, als wir geplant haben. Die Politiker werden wütend sein, wenn etwas schiefgeht.
Es dauerte einen Moment, bis er merkte, daß Waterman aufgehört hatte zu reden und ihn vom Bildschirm herab erwartungsvoll ansah. Wie ein Kind, das seinen Vater um Erlaubnis bittet, einen neuen Schritt zum Erwachsenleben zu tun, dachte Li.
Er zwinkerte zweimal und hörte sich dann wie aus großer Ferne antworten: »Also gut, führen Sie Ihr Vorhaben durch. Aber ich erwarte von Ihnen, Kommandant Wosnesenski, daß Sie sofort haltmachen, wenn Ihre Treibstoffvorräte unter die kritische Schwelle sinken sollten.«
Die Kamera unten schwenkte zu Wosnesenski zurück. »Ich habe die Treibstoffreserven berechnet, die wir für die sichere Rückkehr zur Basis brauchen, und einen Notfallfaktor von zwanzig Prozent hinzuaddiert.«
»Wenn Sie diesen Punkt erreichen, müssen Sie umkehren, ganz gleich, wo Sie sind oder was Sie tun. Ist das klar?«
»Ja, Sir.«
»Doktor Waterman?«
Er hörte Watermans Stimme antworten: »Klar.«