Auch in Houston hatten die obersten Entscheidungsträger bereits Feierabend gemacht und sich in alle Himmelsrichtungen in ihre Vorstadthäuser zerstreut. Die Schreibtische und Konsolen waren nur von einer Handvoll Männer und Frauen besetzt, die größtenteils jung waren und diese Arbeit noch nicht lange machten.
Der Schichtleiter, ein Systemanalytiker mittleren Alters, mampfte gerade eine Tüte Tortilla-Chips mit Käsegeschmack, als sein ›rotes‹ Telefon summte. Mit einer Mischung aus Ärger und Verblüffung nahm er den Hörer ab.
Es war reiner Zufall, daß er die amerikanische Flugkontrolleurin in Kaliningrad persönlich gut kannte. Sie hatten mehrere Semester gemeinsam am CalTech studiert.
»Josie, wie geht’s so?« sagte er zu dem angespannten Gesicht, das auf seinem Bildschirm erschien. »Behandeln diese Russkis dich gut?«
Fast ein Herzschlag Verzögerung, weil das elektronische Signal von einem Fernmeldesatelliten weitergeleitet wurde, bevor ihre Antwort kam.
»Sam, wir haben hier ein Problem.«
Er beugte sich ruckartig auf seinem Stuhl vor. »Was ’n los?«
»Doktor Li hat eine Ausweitung der Rover-Exkursion genehmigt, ohne sich vorher mit dem Kontrollzentrum abzusprechen.«
»Du lieber Gott!« Er legte eine pummelige Hand auf seine wogende Brust. »Ich dachte, es gäbe echte Probleme. Jag mir nicht so einen Schrecken ein, Jo!«
»Das ist ein Problem — es ist eine Verletzung des Protokolls über die Kommando- und über die Entscheidungsstruktur.«
»Ach Quatsch. Wenn der verdammte Rover den Geist aufgegeben hätte oder jemand da draußen liegengeblieben wäre, dann hätten wir ein Problem. Das da ist bloß Papierkram.«
Sie ließ sich nicht abwimmeln. »Du mußt Maxwell und Goldschmitt an den Apparat holen. Sie müssen sofort darüber Bescheid wissen.«
»Müssen sie nicht.«
»Müssen sie doch! Entweder du rufst sie an, oder ich rufe ihre russischen Pendants hier in Kaliningrad an.«
Mit einem Blick auf die Zeitanzeigen an der Wand gegenüber sagte er: »Herrje, da drüben ist es vier Uhr morgens.«
»Es ist wichtig, Roscoe.«
»Nenn mich nicht Roscoe!«
»Ruf Maxwell und Goldschmitt an. Und zwar gleich, bevor wir sie nicht mehr aufhalten können.«
»Die essen wahrscheinlich gerade zu Abend.«
»Was wäre dir lieber: daß du sie beim Abendessen störst oder daß sie morgen rausfinden, daß zwei Mitglieder unseres Bodenteams auf einer nicht genehmigten Spritztour sind, weil du sie nicht rechtzeitig genug informiert hast, um sie noch zu stoppen?«
WASHINGTON: Es war kein Zufall, daß Alberto Brumado an dem Festbankett teilnahm, dessen Ehrengast die Vizepräsidentin war. Brumado wußte, daß diese Frau gute Chancen hatte, die nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten zu werden, und ihre Ansichten konnten durchaus darüber entscheiden, wann — und sogar ob — die zweite Expedition zum Mars in Angriff genommen werden würde.
Brumado hatte sie schon oft getroffen, und obwohl sie völlig verschiedener Meinung über die Bedeutung der Weltraumforschung waren, hatten sie sich auf die höfliche, widerwillige Weise miteinander angefreundet, die politische Gegner oftmals für notwendig halten. Washingtons gesellschaftliche Kreise waren schließlich zu klein, um bei Cocktailparties und Festbanketten Kämpfe auszufechten. Es war besser, zu lächeln und darin einig zu gehen, daß man verschiedener Meinung war — im gesellschaftlichen Rahmen.
Brumado hatte also nicht die geringste Absicht, den Mars gegenüber der Vizepräsidentin auch nur zu erwähnen. Dies war ein geselliger Abend, da war man charmant und geistreich und arbeitete an dem freundschaftlichen Verhältnis, das die persönlichen Differenzen in den Tagesstunden des politischen Geschäfts vielleicht abmildern würde.
Die Ansprache der Vizepräsidentin nach dem Bankett war ein deutliches Signal, daß sie von ihrer Partei nominiert werden wollte. Sie sprach von Amerikas Größe, vom Wachstum der nationalen Wirtschaft und davon, wie ihre Tätigkeit an der Spitze der Sonderkommission zur Neubelebung der innerstädtischen Gebiete das Antlitz der Städte im ganzen Land ins Positive verändere.
»Und der Schlüssel zu all dem«, erklärte sie ihrem Publikum — Männern in Smokingjacken und juwelenbehängten Frauen in Abendkleidern —, »der Schlüssel ist Synergie, die Art, wie wir Menschen aus vielen verschiedenen Schichten und Berufen zusammengeführt und sie dazu gebracht haben, zusammenzuarbeiten, ihre Kräfte zu vereinen, bis ihre Gesamtleistung viel größer war als die bloße Summe ihrer individuellen Anstrengungen. Synergie funktioniert! Und diese Administration hat vor, mit Hilfe der Synergie auch die Probleme zu lösen, die uns immer noch plagen …«
Brumado saß mit neun Fremden an einem der fünf Dutzend runden Tische und hörte aufmerksam zu. Sie spricht über den ökonomischen Beitrag der High Tech, sie erwähnt sogar den Erfolg der orbitalen Produktion, aber sie sagt kein einziges Wort über den Mars oder die Raumforschung. Doch wenn die Forscher vom Mars zurückkommen, wird sie da sein, um sie im Scheinwerferlicht der Medien aus aller Welt zu begrüßen.
Zu seiner Überraschung kam einer der Berater der Vizepräsidentin zu ihm, beugte sich zu ihm herunter und flüsterte: »Die Vizepräsidentin möchte Sie gern unter vier Augen sprechen, wenn sie mit ihrer Rede fertig ist. Würden Sie mir bitte folgen?«
Brumado faltete seine Serviette ordentlich zusammen und legte sie neben seine halbleere Kaffeetasse. Er entschuldigte sich mit einem unhörbaren Flüstern bei den neun anderen Gästen am Tisch, erhob sich, ging auf Zehenspitzen rasch an den anderen Tischen in dem abgedunkelten Speisesaal des Hotels vorbei und folgte dem dunkel gekleideten Berater in die Küche hinaus.
Die Macht zeigt sich in den kleinen Dingen, wie Brumado wußte. Normalerweise wäre das Küchenpersonal jetzt damit beschäftigt, die sechshundert Dinnerservices abzuwaschen, mit dem Besteck zu klappern und mit Töpfen zu scheppern, während der Redner auf der anderen Seite der Schwingtür bei dem Lärm zu sprechen versuchte. Bei der Vizepräsidenten saßen sie jedoch da und warteten, bis sie mit ihrer Rede fertig war. Brumado lächelte ihnen zu, während sie miteinander flüsterten und auf ihre Armbanduhren schauten. Überstundenlohn. Entschädigt sie das ausreichend dafür, daß sie noch eine Stunde später nach Hause kommen?
Endlich kam die Vizepräsidentin zum Schluß, und das Publikum spendete ihr donnernden Applaus. Gerade noch genug Zeit für die Fernsehleute, ihr Material für die Elf-Uhr-Nachrichten zu überspielen.
Sie rauschte durch die Schwingtür, Leibwächter des Secret Service vor ihr und hinter ihr, eine derart gebieterische Erscheinung, daß die müden, gelangweilten Küchenhilfen automatisch aufstanden.
Dabei war sie winzig klein, knapp über eins fünfzig, eine zierliche Frau, die hart daran arbeitete, kein Gewicht anzusetzen. Trotzdem beherrschte sie jeden Raum, den sie betrat. Ihr Gesicht glühte vor Energie, ihre Augen waren so tiefblau, daß sie beinahe violett wirkten; ihr Blick war wie ein doppelter Laserstrahl und hätte einem Rhinozeros die Haut abziehen können. Ihr helles, aschblondes Haar, in dem graue Strähnen nicht weiter auffielen, war voll und dick, aber kurz genug geschnitten, um jeder Frau, die sie ansah, zu zeigen, daß sie keine Zeit für Kinkerlitzchen wie Lockenwickler und Fönwellen hatte.
»Da sind Sie ja«, sagte sie, als sie Brumado vor einem langen Tresen stehen sah, auf dem sich schmutziges Geschirr stapelte.
Er schloß sich ihr an, als sie auf die Rückseite der Küche und die Doppeltür zusteuerten, die zu den Laderampen und der Zulieferstraße hinausging.
»Ich war gerade mitten beim Essen«, sagte die Vizepräsidentin und wedelte mit einem dünnen Blatt Papier, »als das hier aus Houston kam.«