»Er ist ein hübscher roter Teufel, nicht wahr?«
Joanna fuhr auf dem Hocker herum. Tony Reed stand hinter ihr. Sein Arm lag lässig auf der transparenten Plastikhaube einer leeren Isolierbox. Er trug einen dünnen schwarzen Rollkragenpullover unter seinem braunen Overall. Ein Mundwinkel war in einem seltsamen, ironischen Lächeln leicht nach oben gezogen. Joanna starrte ihn einen Moment lang wortlos an. Es war fast, als wäre Reeds Gesicht in zwei Hälften gespalten: Die eine Hälfte lächelte, die andere nicht.
»Jamie hat triftige Argumente dafür, daß wir den Canyon erforschen«, sagte sie. »Die Chance, lebende Organismen zu finden, oder auch nur Fossilien ausgestorbener Arten …«
Reed kam näher, zog sich den anderen Hocker heran und setzte sich rittlings darauf. Mit einer Handbewegung zum Bildschirm sagte er: »Unser indianischer Freund scheint zu glauben, er hätte die Ruinen eines alten Dorfes gefunden. Wirklich absurd.«
Plötzlicher Zorn loderte in Joanna auf. »Woher wissen Sie, daß es absurd ist? Wie können wir überhaupt etwas über diese Welt sagen, bevor wir sie nicht vollständig erforscht haben?«
Reeds Lächeln wurde breiter. »Ich bin kein Spieler, aber ich wäre bereit, eine ganze Menge darauf zu setzen, daß es auf dem Mars keine alten Zivilisationen zu finden gibt.«
»Ja, und vor hundertfünfzig Jahren hätten Sie darauf gewettet, daß Schliemann die Ruinen von Troja niemals finden würde.«
»Meine Güte, sind wir aber hitzig!« erwiderte Reed lachend.
Joanna drehte sich wieder zum Computer um, aber nun füllte Wosnesenskis grob geschnittenes, mürrisches Gesicht den Bildschirm aus. Sie schaltete ihn ab.
»Sie haben natürlich recht«, gab Reed gelassen zu. »Man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen — weder in der einen noch in der anderen Richtung.«
Joanna faßte das als Entschuldigung auf.
»Jamie macht gute Arbeit, nicht wahr?« fragte Reed rhetorisch. »Ich bin froh, daß wir ihm den Platz im Team erkämpft haben.«
»Er ist ein hervorragender Mann«, stimmte Joanna zu.
»Viel besser, als Hoffmann gewesen wäre, obwohl ich mich frage, wie DiNardo sich hier gemacht hätte.«
»Was meinen Sie?«
Reed stützte beide Ellbogen auf den Labortisch in seinem Rücken und wirkte so entspannt, als säße er in einem Londoner Pub. »Nun ja, DiNardo hat so eine ungeheure Reputation, wissen Sie. Wenn er gesehen hätte, was Jamie da draußen im Grand Canyon gesehen hat … Es stellt sich doch die Frage, ob er uns nicht aufgrund seines Prestiges dazu gebracht hätte, das Lager dorthin zu verlegen.«
»Das ganze Lager?«
Reed legte den Kopf ein wenig schief, so daß ihm eine jungenhafte Locke sandfarbenen Haares in die Stirn fiel. »Wenn Jamie recht hat und der Canyon die beste Stelle für die Suche nach Leben ist, dann sollten wir dort zumindest ein Nebenlager aufschlagen, finden Sie nicht?«
Joanna nickte bedächtig. »Aber wir können nicht mit der ganzen Kuppel dorthin umziehen.«
»Jetzt, wo sich dieser dumme Japaner umgebracht hat«, entgegnete Reed, »wird uns die Missionsleitung wahrscheinlich alles verbieten, was auch nur einen Millimeter von unserem offiziellen Plan abweicht.«
»Aber der Plan sollte doch flexibel sein! Sie können uns nicht zwingen, nach einer vorher festgelegten Routine vorzugehen, als ob wir Marionetten wären.«
»Glauben Sie nicht? Tja, mir geht trotzdem immer wieder der Gedanke durch den Kopf, daß wir jetzt schon einen Plan für die Errichtung eines Lagers auf dem Grund des Canyons ausarbeiten würden, wenn DiNardo hier wäre.«
»Genau das will Jamie doch, oder?«
»Klar. Aber er hat Probleme mit seinen Politikern in den Staaten, wissen Sie, wegen dieses Navajo-Unsinns, den er bei unserer Landung von sich gegeben hat. Ich bezweifle, daß die da oben auf seine Empfehlungen hören würden.«
Joanna musterte das Gesicht des englischen Arztes. Er grinste nicht mehr. Er machte einen vollkommen ernsten Eindruck.
»Ich kann mit meinem Vater darüber sprechen«, sagte sie. »Er weiß bestimmt schon über diese Möglichkeit Bescheid — oder er wird es wissen, sobald die heutigen Daten im Kontrollzentrum eintreffen.«
»Ja, Ihr Vater wäre sicherlich eine Hilfe. Ich dachte aber eher an DiNardo. Wenn wir seine Zustimmung bekommen können, daß wir ein Nebenlager in dem Canyon einrichten sollten, wäre das enorm hilfreich, würde ich meinen.«
Joanna fühlte, wie sie ein Schauer der Erregung überlief. »Ja! Natürlich! Die könnten es sich nicht leisten, sich Pater DiNardo zu widersetzen.«
»Kaum«, sagte Reed.
»Ich werde mich persönlich mit ihm in Verbindung setzen«, sagte Joanna. »Und meinem Vater vorschlagen, daß er Pater DiNardo ebenfalls um Hilfe bittet.«
»Ja, so müßte es klappen.«
»Ich schicke noch heute abend eine Botschaft. Jetzt gleich.«
»Prima«, sagte Reed. Er streckte sich und stand von dem Hocker auf. Dann beugte er sich näher zu Joanna und flüsterte: »Wir beide können eine Menge erreichen, wenn wir hinter den Kulissen ein paar Fäden ziehen.«
»O ja. Danke. Ich bin sehr froh über Ihre Hilfe.«
»Keine Ursache, meine Liebe.«
Doch als er lässig vom Biologielabor zu seiner Kabine zurückschlenderte, dachte Reed: Sie ist scharf auf Jamie, soviel steht fest. Jetzt muß ich nur noch dafür sorgen, daß er da draußen im Grand Canyon bleibt und sie hier. Eine Distanz von rund tausend Kilometern zwischen den beiden müßte mir genug Spielraum geben. Früher oder später kriege ich sie. Ich muß nur Geduld haben. Und ich brauche ein bißchen Hilfe, aber die kriege ich ja von ihr selbst. Wie nett!
Er pfiff tonlos vor sich hin, als er an der Messe vorbeiging, wo die meisten anderen zusammenhockten und wie eine Horde Schulkinder die Ereignisse des Tages erörterten. Ohne sie zu beachten, begab sich Reed zu seiner Liege und seinen Träumen.
Jamie und Wosnesenski saßen im Cockpit des Rovers, als sie ihren abendlichen Bericht durchgaben. Sobald sie mit dem offiziellen Teil fertig waren, unterrichtete Pete Connors sie über die Reaktionen auf Konoyes Unfall. Jamie betrachtete die bekümmerten Züge des Astronauten auf dem zentralen Bildschirm in der Kontrolltafel im Cockpit und warf zwischendurch einen Blick auf den zweiten Monitor. Die leuchtenden Kurven des Diagramms darauf zeigten, daß jetzt so gut wie kein Ozon mehr aus dem Marsstaub in der Luftschleuse ausgaste.
»Der Unfall hat alle ziemlich erschüttert«, sagte Connors besorgt. »Doktor Li telefoniert schon seit Stunden mit Kaliningrad. Gott weiß, was die dann tun werden.«
»Aber mit der Ausrüstung war doch alles in Ordnung«, sagte Jamie. »Der Kosmonaut und das restliche Team haben genau das getan, was sie im Training gelernt hatten. Konoye hat einfach einen Schlaganfall bekommen.«
»Oder er ist aus irgendeinem Grund in Panik geraten und hat dann den Schlaganfall bekommen.« Wosnesenskis Ton war schwer und düster.
Connors war ebenfalls sehr ernst. »Was auch immer passiert ist, die Politiker springen im Dreieck. Es sieht nicht gut aus, wenn jemand getötet wird …«
»Er ist nicht getötet worden«, fauchte Jamie. »Er ist gestorben.«
»Glauben Sie, das interessiert die in Tokio? Oder in Washington?« knurrte Connors.
»Nein, wohl nicht.«
Wosnesenski sagte: »Wir machen uns morgen früh bei Tagesanbruch auf den Rückweg, wie befohlen. In der Zwischenzeit überspiele ich Ihnen alle Videobänder und die anderen Daten, die wir gesammelt haben.«
»Okay. Ich stelle den Computer auf Empfang.«
Er erwähnt die Felsenbauten nicht einmal, erkannte Jamie. Mit keinem Wort.
»Kann ich mit Doktor Patel sprechen, bitte?« fragte er Connors. »Ist er da?«
»Sicher.«
Kurz darauf machte Connors’ Gesicht dem des Geologen aus Indien Platz. Pateis dunkle Haut schien immer zu glänzen, als wäre sie von einer feinen Schweißschicht bedeckt oder gerade mit Öl eingerieben worden. Die Augen in seinem runden Gesicht waren groß und feucht und verliehen ihm den unschuldigen Ausdruck eines Kindes, das am Rande der Tränen war.