Jamie begriff endlich, daß sich, was McMurdo betraf, vor allem eins in ihr Gedächtnis eingegraben hatte, nämlich sein tastender Versuch am Abend nach ihrer ersten Exkursion auf den Gletscher, sie zu küssen. Es hat viel für sie bedeutet, erkannte er. Und ich dachte, sie wäre deshalb wütend auf mich gewesen. Sie geht davon aus, daß ich in sie verliebt bin.
Und, bin ich es? Er dachte an Edith, die lächelnde, blonde Texas-Schönheit, Millionen von Kilometern entfernt. Herrje, ihr Band liegt jetzt seit zwei Tagen bei mir in der Kabine, und ich habe ihr noch nicht mal geantwortet. Joanna ist ganz anders. Auf eine tief ergehende Weise schön. Ernst. Sehr ernst.
Dann fragte er sich, ob sie über Ilona Bescheid wußte. Ob sie wußte, daß er mit ihr gevögelt hatte. Wahrscheinlich nicht, aber irgendwann würde sie es erfahren. Irgend jemand würde es ihr mit Genuß hinterbringen. Was würde sie dann von ihm denken?
Ihre Hand umklammerte immer noch die Manschette seines Sweatshirts. Jamie legte seine andere Hand auf ihre.
»Ich glaube, du hast recht, Joanna. Du hattest in McMurdo recht, und du hast auch jetzt recht. Wir sind weit weg von zu Hause. Vielleicht können wir uns eines Tages wie normale Menschen zueinander verhalten und selbst herausfinden, was wir einander wirklich bedeuten. Aber jetzt …« Ihm gingen die Worte aus, und er schloß mit einem halben Achselzucken, das sie in der Dunkelheit wahrscheinlich nicht sehen konnte.
»Jetzt«, beendete Joanna den Satz für ihn so leise, daß er sie kaum hörte, »können wir Freunde sein. Es ist gut, einen Freund zu haben, Jamie. Gut für uns beide.«
»Ja. Sicher.«
»Es ist die einzige Möglichkeit. Wir können jetzt keine Bindungen eingehen. Nicht hier, nicht in diesem … Goldfischglas.«
Er nickte. Es war ihm egal, ob sie es sehen konnte oder nicht.
»Hast du dir schon überlegt, was du tun wirst, wenn wir nach Hause kommen?« fragte Joanna.
Beinahe wäre ihm entfahren: Hier bin ich zu Hause. Hier auf dem Mars. Statt dessen erwiderte er sanft: »Nicht so richtig. Du?«
Sie seufzte. »Die National Geographie Society hat meinen Vater schon um einen Artikel über diese Expedition für ihre Zeitschrift gebeten. Den werde ich vermutlich größtenteils für ihn schreiben. Ich bin schon seit vielen Jahren sein Ghostwriter.«
»Das dürfte nicht allzu lange dauern.«
»Dann Vorträge, nehme ich an. Er und ich. In aller Welt. Und ein Buch, natürlich.«
»Ich glaube, ich werde mir eine Universität aussuchen und die nächsten paar Jahre damit verbringen, die Proben zu analysieren, die wir mitbringen. Und die Daten, die wir sammeln.«
»Das könnte eine Lebensaufgabe werden.«
»Schon möglich.«
Sie verstummte.
»Was ist mit der nächsten Expedition?« fragte Jamie.
»Wird sich dein Vater nicht für eine Nachfolgemission einsetzen?«
»Das tut er bereits. Soviel ich weiß, wollen die Politiker aber erst die Resultate dieser Mission sehen, bevor sie sich auf eine weitere festlegen.«
Jamie beugte sie zu ihr, von einem plötzlichen, heißblütigen Drang erfaßt. »Joanna, verstehst du nicht, wie wichtig es ist, daß wir zu dem Canyon zurückfahren und uns diese Formen genauer ansehen? Wenn wir mit Beweisen zurückkommen, daß es früher einmal eine Zivilisation auf dem Mars gegeben hat, eine intelligente Spezies, die Felsenbauten errichtet hat … heiliger Jesus Christus, dann könnte niemand eine zweite Expedition aufhalten. Und eine dritte, eine zehnte, eine hundertste!«
Er spürte, daß sie im Dunkeln lächelte. »Ja, aber angenommen, wir stellen fest, daß dein Dorf nicht mehr ist als eine natürliche Gesteinsformation? Was dann?«
Ihre Stimme war traurig. Und Jamie wußte keine Antwort.
GLEITFLUG
Zum ersten Mal, seit die Expedition die Erdumlaufbahn verlassen hatte, war Pete Connors so richtig entspannt.
Er lehnte sich im Cockpitsitz zurück und schaute auf die rosafarbene und rote Landschaft hinunter, die rund fünfzehn Kilometer unter ihm vorbeizog. Der kleine Schwebegleiter flog wie ein Traum und reagierte so einfühlsam auf seine Hände wie eine liebende Frau.
Der Schwebegleiter war ein winziges Gazeflugzeug, so leicht, wie es mit seinen Plastikrippen und seiner Mylar-Haut nur sein konnte. Das Schwerste an ihm war der kleine Elektromotor, der seinen träge schnurrenden Propeller antrieb. Der Motor wurde von Solarzellen aus Plastik und Silizium mit Energie versorgt. Die Solarzellen schmiegten sich an die Krümmungen der breiten, langen Tragflächen des Schwebegleiters und verwandelten das reichlich vorhandene marsianische Sonnenlicht unablässig und geräuschlos in Strom, während er durch die saubere, helle, dünne Marsatmosphäre flog.
Der offizielle Name des Schwebegleiters war RPV-1. Es gab einen RPV-2, der mit zusammengeklappten Tragflächen in der Ladebucht eines der unbemannten Lander verstaut war und noch auf seinen Einsatz wartete. Connors hatte jedoch seinen eigenen Namen für das Flugzeug. Er nannte es Little Beauty. Und das war es auch für ihn: eine kleine Schönheit.
Die kleine Schönheit bereitete ihm viel Freude. Connors genoß es, wie sie sich unter seinen Händen bewegte, er genoß den weiträumigen, wunderschönen Ausblick auf die vorbeiziehende Marslandschaft, deren Panorama er überall um sich herum sehen konnte.
Ein Teil des Bildes wurde plötzlich dunkel. An dieser Stelle klappte der Videoschirm nach oben, und Paul Abells Froschaugengesicht erschien. Seine hohe Stirn war fragend gerunzelt.
»Kommst du nicht zum Lunch raus?« fragte Abell seinen Kollegen.
Connors schüttelte den Kopf. »Nee, ich hab zuviel Spaß mit ihr. Kannst du mir ein Sandwich machen?«
Abell warf einen Blick auf die Kontrolltafel und die anderen Bildschirme mit den Ausschnitten der fernen Marslandschaft. »Okay. Aber ich würde gern auch mal ’ne Runde mit ihr einlegen, weißt du.«
»Später«, murmelte Connors. »Du kannst sie auf dem Rückweg fliegen.«
Abell machte ein skeptisches Gesicht, ließ jedoch den Bildschirm wieder herunter. Connors fühlte sich erneut allein, als würde er tatsächlich über Chryse Planitia hinweggleiten, die Ebene des Goldes, und nicht im Innern der Basiskuppel in der Teleoperator-Simulation des Schwebegleitercockpits sitzen.
In einem elektronischen Sinn flog Connors seine Little Beauty wirklich. Er war auf so umfassende Weise mit der ferngelenkten Flugmaschine verbunden, daß er jedes Erzittern ihres schlanken Rumpfes spürte, jede leichte Windbö, die ihren Gazeflügeln Auftrieb gab. Faust tausend Kilometer trennten Pilot und Flugzeug, aber Connors beherrschte RPV-1 ebensosehr, als ob ihn das winzige Flugzeug tatsächlich durch den Himmel tragen würde.
Die Ingenieure nannten es Teleoperation, die Technik, Mensch und Maschine elektronisch zu verbinden, obwohl sie physisch nicht zusammen waren. Dank der Teleoperation konnte ein Flugzeug Tausende von Kilometern über den Mars hinwegstreifen, ohne einen Piloten und die ganze für einen menschlichen Lenker erforderliche Lebenserhaltungsausrüstung transportieren zu müssen. Der Pilot konnte am Boden oder in einem der Raumschiffe in der Marsumlaufbahn bleiben, wo er in Sicherheit war, während das Flugzeug den unbekannten Gefahren des unerforschten Planeten die Stirn bot.
Tief in seinem Innern verspürte Connors fast das genaue Gegenteil der Raumkrankheitssymptome. In der Schwerelosigkeit schrien die Ohren, daß man fiel, während die Augen einem sagten, daß man sicher in der Kabine eines Raumschiffs saß. Wenn Connors jedoch Little Beauty flog, sagten ihm seine Augen, daß er in fünfzehn Kilometer Höhe dahinglitt, aber sein Hintern und alle anderen Körpersinne erinnerten ihn daran, daß er auf dem Boden hockte.