»Katrin und ich genügen Tony nicht«, fuhr Ilona fort. »Er will das Unerreichbare.«
Genau wie ich, erkannte Jamie. Genau wie ich.
SOL 15
NACHMITTAG
»Das ist mir irgendwie unangenehm, Edith«, sagte Jamie in die Kamera.
Er saß auf der Liege seiner Privatkabine. Die Videokamera stand vor ihm auf dem kleinen Leichtbauschreibtisch und war auf sein Gesicht gerichtet. Am Morgen war er vor seinen planmäßigen Arbeitsstunden als erstes in den Raumanzug gestiegen und hinausgegangen, um ein paar Minuten lang Panorama-Aufnahmen von den Steinen, Dünen und fernen Bergen in dem Gebiet um die Kuppel zu machen. Jetzt saß er auf seiner Liege und überlegte, was er Edith erzählen sollte.
»Gestern haben wir einen kleinen Schrecken gekriegt. Noch ist nicht wieder alles normal. Ein verirrter Meteorit hat unsere Kuppel durchschlagen. Nur ein kleines Loch. Wir haben den Meteoriten nicht mal gefunden; er muß so klein gewesen sein, daß er durch die Energie des Aufschlags verdampft ist. Aber ein Teil unserer Luft ist durch das Leck entwichen, und ein paar Minuten lang war alles ziemlich dramatisch.«
Er schaute nach oben. Die Kuppel war in Sonnenlicht getaucht. Die Pumpen und Lüfter pochten wie üblich dumpf vor sich hin. Jamie hörte Stimmen und den Cowboy-Sound eines Country-and-Western-Songs aus irgendeinem Kassettenrecorder.
»Wir atmen hier drin immer noch reinen Sauerstoff. Wir müssen auf Zehenspitzen herumlaufen und extrem vorsichtig sein. In einer reinen Sauerstoff-Atmosphäre könnte der kleinste Funke die ganze Kuppel in Flammen aufgehen lassen. Die Abscheider sammeln Stickstoff aus der Luft draußen, aber wir werden erst in ein oder zwei Tagen wieder normale Luft haben.
Abgesehen von der Kuppelhülle ist nichts beschädigt worden, und Wosnesenski und Paul Abell haben nur ein paar Minuten gebraucht, um das Loch von innen abzudichten. Ich war draußen, als es passiert ist, und da hat mir ein anderer Mikrometeorit einen Kratzer in den Helm gemacht. O ja, und Tony Reed hat vor Schreck eine Flasche Vitaminpillen umgeworfen. Jetzt wird er ständig wegen seiner Ungeschicklichkeit aufgezogen.«
Jamie schaltete die Kamera mit der Fernbedienung in seiner Hand aus und gähnte. Die reine Sauerstoff-Atmosphäre schien ihm auf die Ohren zu gehen. Sie fühlten sich verstopft an, als ob sie knacken müßten. Das Gähnen half, aber nicht sehr.
Er schaltete die Kamera wieder ein und fuhr fort: »Die Meteoriten waren wahrscheinlich die letzten Überreste eines uralten Kometen. Nur ein paar verirrte Steinchen, die im Sonnensystem herumgeflogen sind und die es zufällig zum Mars verschlagen hat, genau dorthin, wo wir waren. Könnte in einer Million Jahre nicht noch einmal passieren.«
Jamie zögerte einen Augenblick. Es gab kaum irgendwelche weiteren Neuigkeiten, die er ihr mitteilen konnte.
»Natürlich habe ich mich über das Band gefreut, das du mir geschickt hast. Und ich bin froh, daß du vorankommst. Muß eine Menge Mut gekostet haben, nach New York zu gehen. Wenn ich irgendwas tun kann, zum Beispiel dir ein Interview oder irgendwelche Hintergrundinformationen über unsere Arbeit hier auf dem Mars zu geben, schick mir einfach eine Anfrage über die Missionsleiter, dann sage ich dir gern alles, was du wissen möchtest.«
Jamie hielt die Videokamera wieder an und dachte: Wieviel kann ich ihr wirklich erzählen? Wieviel würden die Missionsleiter durchgehen lassen? Er beschloß, vorläufig bei der Wissenschaft zu bleiben und nicht über Politik und persönliche Dinge zu sprechen.
»Wie sich herausstellt, gibt es erheblich mehr Wasser unter der Oberfläche, als wir aufgrund der Meßergebnisse der früheren unbemannten Raumsonden geglaubt haben. Es ist natürlich gefroren. Wir sitzen auf einem Meer aus Grundeis, das sich wahrscheinlich bis zu den Valles Marineris erstreckt — das ist der Grand Canyon des Mars. Vielleicht noch weiter, aber wir haben den Canyon noch nicht überquert und die andere Seite erforscht.«
Jamie schilderte die kurze Exkursion zum Canyon und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, noch einmal hinfahren zu können, wobei er die Diskussionen und Debatten überging, die er ausgelöst hatte. Er vermied es sorgfältig, das ›Dorf‹ zu erwähnen; dafür ist noch Zeit genug, wenn wir eindeutige Beweise haben, so oder so, dachte er. Statt dessen erzählte er Edith von dem kupfergrünen Stein, den sie gefunden hatten. Dann gingen ihm die Themen aus.
Er fummelte nervös mit der Fernbedienung herum und schaltete die Kamera schließlich wieder ein. »Ich bin froh, daß sich die ganze unsinnige Aufregung wegen meines Navajo-Spruchs mittlerweile gelegt hat. Zumindest nehme ich das an. Wir haben hier nicht viele Nachrichten zu sehen gekriegt — meistens Material von der BBC.«
Er schaltete wieder aus und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während er nachdachte, was er Edith sonst noch erzählen könnte.
»Tja, ich glaube, das war’s für den Augenblick. Wir haben noch keine Spuren von Leben gefunden, weder Lebewesen noch Fossilien, aber vielleicht herrschen im Grand Canyon lebensfreundlichere Bedingungen. Monique Bonnet hat einen hübschen kleinen Garten in Marserde angelegt, und sie gießt ihn mit Marswasser. Ich weiß aber nicht, was ein paar Tage reiner Sauerstoff für ihre Pflanzen bedeuten. Wir gehen alle ab und zu hin und beatmen sie, damit sie ein bißchen Kohlendioxid abkriegen. Es war nett von dir, daß du mich angerufen hast, Edith. Ich spreche später wieder mit dir.«
Er schaltete die Videokamera endgültig aus und dachte, ich kann eine bearbeitete Fassung dieses Bandes für Al und meine Eltern anfertigen und die Flugkontrolle bitten, es ihnen zu schicken. Das wird sie überraschen. Vielleicht schicken mir meine Eltern sogar eine Antwort.
Seiji Toshima hatte sich die ganzen heftigen Diskussionen zwischen Waterman und dem Rest des Teams angehört, ohne auch nur ein einziges Mal den Mund aufzumachen. Ihr Streit hatte nichts mit ihm zu tun, und er war von frühester Kindheit an darauf trainiert worden, mit seinen Meinungen hinterm Berg zu halten, sofern er nicht ausdrücklich darum gebeten wurde, sie zu äußern.
Doch jetzt bat ihn Waterman — nicht um seine Meinung, sondern um sein Wissen. Das war etwas anderes. Toshima war froh, mit dem amerikanischen Geologen Wissen austauschen zu können. Schließlich war dies der Zweck dieser Expedition zum Mars, oder nicht? Wissen zu erwerben. Und was nützt Wissen, wenn man es nicht mit anderen austauscht?
Jamie Waterman saß auf einem dünnbeinigen Plastikhocker mitten im Meteorologielabor des Japaners. Toshimas Bereich war vom Team auf den Namen ›Wetterzentrale‹ getauft worden. Es war das kleinste Labor von allen und derart aufgeräumt und picobello sauber, als ob ein Trupp Wartungsroboter es jede halbe Stunde schrubben und alles abstauben würde.
Der Raum sah wie das Schaufenster eines Elektronikladens aus. Während die Arbeitstische der anderen Wissenschaftler mit Gläsern und Meßinstrumenten übersät waren, hatte Toshima eine Reihe leise summender Computer, deren Bildschirme Diagramme und Kurven zeigten. Am Ende der Reihe, wo sie an der Ecke zur Trennwand L-förmig abknickte, stand ein Scanner, der Videoband einlesen und die Bilder zwecks Speicherung im Computer digitalisieren konnte.
Toshima saß in der anderen Ecke auf einem wacklig aussehenden Hocker. Er hatte Jamie seinen besten Hocker gegeben, den einzigen mit einer Lehne.
Seit dem Tod von Isoruku Konoye hatte Toshima das Gefühl, daß eine unerwartete Verantwortung auf seinen Schultern lastete; die Verantwortung für die Ehre Japans, dafür, den stolzen Namen seines Vaterlandes selbst hier hochzuhalten, auf dieser fremden Welt. Er wußte, daß die meisten seiner Kollegen alles Japanische heruntermachten; er sah es ihren Augen an, wenn sie mit ihm sprachen, er merkte es an der fast schon intoleranten Selbstgefälligkeit von Leuten wie Antony Reed und an der übermäßig beflissenen Höflichkeit der Amerikaner und Russen.