»Mit welchen Sensoren arbeiten sie?«
»Der MetSat natürlich mit Infrarot-Detektoren. Das ist die einzige Möglichkeit, aus so großer Entfernung Temperaturdaten zu bekommen. Die Ballons haben eine ganze Anzahl von Thermometern dabei. Sie messen die Temperatur direkt.«
»Und den Ballons zufolge ist die Luft unten in dem Canyon wärmer, als es die Satellitendaten angeben.«
Toshima nickte mit geschlossenen Augen. Es war fast eine kleine Verbeugung.
»Noch mehr Anomalien?«
Auf seinem Gesicht erschien ein dünnes Lächeln. »Ich hatte geglaubt, die Feuchtigkeitsdaten wären unbrauchbar. Die Sensoren schienen gesättigt zu sein.«
»Gesättigt?«
»Die Meßwerte erreichten das obere Ende der Skala und blieben dort, solange die Ballons im Canyon waren — ein paar Stunden, wie sich herausstellte. Wir haben keine Möglichkeit, ihre Richtung oder ihre Geschwindigkeit zu kontrollieren, müssen Sie wissen.«
»Ja, ich weiß.«
Toshima wandte den Blick von Jamie ab und schaute auf das Bild auf dem Monitor. »Da Sie jedoch berichtet haben, Sie hätten im Canyon Nebelschleier gesehen, kann ich — glaube ich — erklären, was geschehen ist.«
Jamie wartete darauf, daß er fortfuhr.
»Die Feuchtigkeitssensoren sind für die sehr geringe Feuchtigkeit kalibriert, die wir auf dem Mars erwartet haben. Wenn die Ballons durch die Nebelschleier geflogen sind, vom denen Sie berichtet haben, dann sind sie auf eine so hohe Feuchtigkeit gestoßen, daß die Sensoren nicht mehr damit fertiggeworden sind. Die Sensoren wurden gesättigt.«
»Okay, das klingt logisch.«
»Andererseits sind da die Temperaturunterschieden …« Toshima lächelte breit. »Bedenken Sie: Die Infrarot-Sensoren des MetSat können nicht tief in den Canyon hineinschauen, wenn dort Nebelschleier hängen. Die Sensoren registrieren den Nebel und melden seine Temperatur.«
Jamie verstand. »Und wenn der Nebel aus Eiskristallen besteht …«
»Oder auch aus Wassertröpfchen«, nahm Toshima den Faden auf, »würde er den Infrarot-Sensoren viel kälter erscheinen als die Luft unter dem Nebel.«
»Die Nebelschleier fungieren als eine Art Decke, die die warme Luft am Grund des Canyons isoliert!«
»Genau. Aber das Radar an Bord des MetSat durchdringt den Nebel, als ob er nicht da wäre, und schickt uns korrekte Angaben über die Tiefe des Canyons. Bevor Sie über die Nebelschleier berichtet haben, hatte ich keine Ahnung, daß sie existierten.«
»Die Ballons haben Ihnen also zutreffendere Temperaturangaben geliefert als die Satelliten.« Jamie verstand allmählich. Sein Körper begann vor Erregung zu kribbeln.
»So interpretiere ich die Daten«, erwiderte Toshima. Er bleckte grinsend die Zähne.
»Okay, dann wollen wir mal die geologischen Daten in dieses Bild einspeisen«, drängte Jamie. Er konnte kaum noch stillsitzen, so aufgeregt war er.
Toshima hackte auf der Tastatur herum, die auf seinem Schoß lag.
»Was suchen Sie?« fragte er.
»Wärme«, sagte Jamie. »Irgend etwas bewirkt, daß dieser Canyon wärmer ist als die Ebenen drum herum. Wärmer, als wir von Rechts wegen erwarten konnten. Vielleicht ist es Hitze, die aus dem Inneren des Planeten heraufkommt.«
»Ah! Heiße Quellen vielleicht. Oder ein Vulkan.«
»Nichts so Dramatisches wie ein Vulkan«, sagte Jamie, der gespannt auf den Bildschirm schaute und darauf wartete, daß die geologischen Daten dort auftauchten.
»Es gibt sehr große Vulkane auf dem Mars«, murmelte Toshima, während seine Finger die Tastatur bearbeiteten.
»Tausend Kilometer von Tithonium entfernt. Und sie sind seit Hunderten von Jahrmillionen erkaltet. Seit Jahrmilliarden vielleicht.«
Toshima flüsterte halb: »Jetzt«, und drückte mit seinem Wurstfinger ostentativ auf die ENTER-Taste.
Schlagartig erschien eine dünne Kolonne knallroter Symbole auf dem Bildschirm.
»Können wir von dieser Nahaufnahme zurückgehen und uns das Gebiet zwischen unserer Basis und dem Rand des Canyons ansehen?« fragte Jamie.
»Natürlich«, sagte Toshima.
Da waren sie, die Echtzeit-Meßwerte der Sensoren, die Jamie während seiner Exkursion mit Wosnesenski aufgestellt hatte. Die Symbole verliefen in gerader Spur von der Kuppel bis zu den Badlands von Noctis Labyrinthus, dann zum Rand von Tithonium und schließlich zurück zur Basis. Zu jeder Gruppe von Sensoren gehörten Wärmestrom-Meßinstrumente. Auf der Erde maßen solche Sensoren die Wärme, die von dem geschmolzenen Magna tief unter der Kruste zur Oberfläche heraufkam.
»Nicht gerade übermäßig viel, oder?« murmelte Jamie und blickte angestrengt auf die winzigen roten Ziffern, als könnte er sie zum Leben erwecken, wenn er sie nur intensiv genug anstarrte.
Toshima sagte nichts. Er saß da, die Hände höflich im Schoß gefaltet.
»Der Planet ist kälter als eine gefrorene Kartoffel«, knurrte Jamie. »Aus seinem Kern kommt nicht mal genug Wärme herauf, um auch nur eine Tasse Tee zu erhitzen.«
»Kein Wärmestrom im Canyon?«
Jamie knetete frustriert beide Oberschenkel, ohne es zu merken. »Das ist es ja eben: Wir haben keine Meßinstrumente am Boden des Canyons. Das ist vielleicht der einzige Ort, wo tatsächlich Wärme vom Kern heraufkommt, aber wir haben keine Sensoren da unten, die es feststellen könnten!«
Toshima neigte leicht den Kopf, diesmal, um zu zeigen, daß er begriff. »Wir müssen also Sensoren auf dem Grund des Canyons aufstellen, wenn wir verstehen wollen, wodurch die Nebelschleier entstehen.«
»Nicht nur Sensoren«, sagte Jamie in eindringlichem Ton. »Wir müssen selbst da hinunter. Irgendwie müssen wir ein Team auf den Boden des Canyons runterschaffen.«
Li Chengdu lächelte die drei Gesichter auf seinem Monitor dünn an. Es handelte sich um eine derart wichtige Entscheidung, daß alle drei Projektleiter sie mit ihm besprechen wollten.
Dafür kann ich mich bei Waterman bedanken, sagte sich Dr. Li im stillen. Wenn er nicht wäre, würde alles nach Plan laufen.
»… daher haben wir die Flugkontrolleure angewiesen«, sagte der russische Projektleiter mit dem ernsten Gesicht gerade, »einen Plan für eine Exkursion zur Tithonium-Chasma-Region vorzubereiten, einschließlich einer direkten Untersuchung des Bodens der Schlucht, sofern das möglich ist. Da es mindestens zwei Wochen dauern wird, einen solchen Plan in die Tat umzusetzen …«
Er hat es geschafft, dachte Dr. Li, während er der monotonen Stimme des Russen mit halbem Ohr lauschte. Waterman hat sie dazu gebracht, den Missionsplan vollständig umzuwerfen und einer Exkursion nach Tithonium zuzustimmen.
Der Expeditionskommandant beobachtete die anderen beiden Projektleiter, während der Russe mit seinen förmlichen Erklärungen fortfuhr. Der Japaner gab sich alle Mühe, gelassen dreinzuschauen, aber Li entdeckte ein Glitzern freudiger Erregung in seinen dunklen Augen. Und über das fleischige, gerötete Gesicht des Amerikaners, eines alten Haudegens, der Washingtons politische Messerstechereien bisher unbeschadet überstanden hatte, spielte ein mildes kleines Lächeln.
»… Pater DiNardo wird den Vorsitz in dem Ad-Hoc-Komitee übernehmen, das den Exkursionsplan ausarbeitet. Doktor Brumado wird als Mitglied kraft seines Amtes an den Sitzungen des Komitees teilnehmen …«
Der Russe redete in seinem monotonen Tonfall immer weiter, wie ein alter orthodoxer Priester, der irgendein unabänderliches Ritual rezitierte.
Was für eine Verschwörung das gewesen sein muß, dachte Li. Die amerikanische Vizepräsidentin hat sich mit dieser Änderung des Missionsplans offenbar einverstanden erklärt. Brumado muß sie irgendwie umgestimmt haben. Sie versucht nicht mehr, Waterman zu erledigen; irgendwie hat Brumado die beiden zu Verbündeten gemacht. Der Mann ist ein Wundertäter.
Eine Exkursion in den Tithonium Chasma. Wir werden den Plan für die letzten vier Wochen in den Papierkorb werfen und alles darauf umstellen müssen. Pateis Exkursion zum Pavonis Mons werde ich verkürzen müssen. Der arme Mann wird vor Wut platzen. Er hat sein halbes Leben damit verbracht, die Vermessung des Pavonis Mons vorzubereiten. Daraus wird nun wohl nichts mehr. Wir werden weder die Zeit noch die Mittel dafür haben.