Selbst die Arbeit hier im Orbit wird neu bestimmt werden müssen, um die Tithonium-Exkursion zu unterstützen. O’Hara wird besonders sauer sein — er hat kein Geheimnis daraus gemacht, daß er gehofft hat, die amerikanischen Politiker würden ihn im Austausch für Waterman auf die Oberfläche hinunterschicken.
Das hat sich jetzt erledigt. Irgendwie ist Waterman der eigentliche Führer des Bodenteams geworden. Er hat den Göttern den Blitz gestohlen. Jetzt stellt er sogar mich in den Schatten.
Dennoch lächelte Li die drei Projektleiter auf seinem Monitor weiterhin still an.
Eine Exkursion zum Boden des Grand Canyon! Der Wissenschaftler in ihm war fasziniert von den Möglichkeiten. Wärme und Feuchtigkeit. Vielleicht Leben. Leben! Was für ein Fund das wäre. Es würde eine neue Geschichtsepoche einläuten.
Trotzdem machte sich der Politiker in ihm Gedanken über die Schwierigkeiten, den Plan zu ändern, die Gefahren, die darin lagen, wenn man so kühn auf neues Gebiet vorrückte, und die Risiken, die jeden Schritt ins Unbekannte begleiteten.
Waterman, dachte er. Wenn er nicht wäre, würde alles glatt und ruhig laufen, genau nach Plan.
Lis Lächeln wurde ein wenig breiter. Wie langweilig das wäre! Außerdem — falls irgend etwas schiefgeht, wird man es in erster Linie ihm anlasten und nicht mir.
ERDE
NEW YORK: Edith saß nervös auf dem Rand des aufgepolsterten Stuhls. Howard Francis’ Apartment war viel kleiner, als sie erwartet hatte, kaum mehr als ein Studio. Das sogenannte Schlafzimmer war nur als ein Flügel des einzigen Zimmers; es war verspiegelt, damit es größer wirkte. Die Küchenecke war ein Alkoven mit einer Spüle, einer Mikrowelle und ein paar Schränkchen.
Der Network-Direktor räkelte sich lässig auf seinem Sofa. Schuhe und Krawatte hatte er abgelegt, der Kopf lag an der Lehne, und er blickte mit halb geschlossenen Augen auf den großen Fernsehschirm. Das Fernsehgerät war das größte Möbelstück in der Wohnung.
Zwischen den halb zugezogenen Vorhängen des einzigen Fensters im Apartment hindurch sah Edith die verdunkelten Fenster des Network-Nachrichtengebäudes. Sie war nicht nur deshalb nervös, weil das Band, das gerade über den Fernseher flimmerte, über ihre zukünftige Karriere entscheiden konnte; es beunruhigte sie, daß ihr Boss darauf bestanden hatte, sich das Band hier in seinem Apartment anzuschauen und nicht in seinem Büro auf der anderen Straßenseite.
Sie hatte sich so schlicht wie möglich gekleidet: ein unförmiges Sweatshirt und eine ausgebeulte alte Hose. Er hatte sie ohne Schuhe und mit gelöster Krawatte an der Tür seines Apartments empfangen und bereits ein Glas Weißwein in der Hand gehabt.
Jamies Band dauerte keine zehn Minuten. Als es zu Ende war, schaltete der Fernseher automatisch auf den Nachrichtenkanal um.
Ihr Boss stellte den Ton ab und sah sie mit schläfrigem Blick an. Edith fand, daß er wie eine betäubte Ratte aussah.
»Ist ja nicht gerade viel, wie?« sagte er träge.
Sie war ehrlich überrascht. »Nicht viel? Er hat uns mehr über diesen Meteoriteneinschlag erzählt als Kaliningrad und Houston zusammen. Und er hat uns gezeigt, wie es in der Umgebung ihrer Basis aussieht. Er hat uns erzählt, was sie entdeckt haben …«
»Das meiste davon wissen wir schon aus den offiziellen Berichten. Und deren Bildmaterial war auch besser.«
»Okay, aber Jamie erzählt uns, daß er zum Grand Canyon zurückwill. Das steht nicht im Missionsplan. Ich habe nachgesehen.«
Er setzte sich aufrechter hin. »Womöglich Konflikt mit der Flugkontrolle?«
»Garantiert!«
Seine Augen wurden größer. »Einzelgänger-Wissenschaftler im Kampf mit den Funktionären. Obendrein mit russischen Funktionären. Das wäre vielleicht was.«
Edith lächelte. »Es ist mehr, als alle anderen haben.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich möchte nicht, daß wir uns zu weit aus dem Fenster lehnen. Es könnte uns den Kopf abreißen. Wir brauchen mehr als bloß das Wort dieses einen Burschen.«
»Ich kann bei ein paar Leuten in Houston nachfragen. Und an Brumado komme ich auch jederzeit ran …«
»Das glaube ich gern«, sagte er mit einem lüsternen Grinsen.
Edith sprang auf. »Ich sollte mich sofort an die Arbeit machen.«
»Morgen früh«, sagte er und streckte die Hand aus, um sie aufs Sofa zu ziehen.
Sie wich ihm aus. »Brumado ist jetzt in Washington, aber nicht mehr lange. Am besten, ich mache mich gleich auf den Weg.«
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Nachts um diese Zeit fliegen keine Maschinen, Herrgott noch mal. Entspann dich. Trink einen Schluck Wein.«
»Sie bezahlen mich dafür, daß ich Ihnen Nachrichten liefere«, erwiderte Edith lächelnd. »Lassen Sie mich meine Brötchen verdienen.«
»Steck dir deine Brötchen sonstwo …«
Aber sie war schon auf dem Weg zur Tür. »Ich miete mir einen Wagen und rufe Sie aus Washington an — mit einem Exklusivinterview mit Brumado. Und vielleicht sogar mit der Vizepräsidentin!«
Edith war draußen, bevor er vom Sofa hochkam. Es klappt immer, dachte sie. Männer denken nun mal mit den Eiern.
Vor Jahren war sie durch Schaden klug geworden und hatte die erste Überlebensregel gelernt: Geh nie mit einem Mann ins Bett, bevor du nicht von ihm bekommen hast, was du willst. Er will Sex. Ich will einen festen Job, nicht dieses kleine Berater-Arrangement. Er könnte mich jederzeit rauswerfen, wann immer es ihm beliebt. Wenn es mir gelingt, die Story über Jamies Kampf mit den Projektleitern als erste zu bringen, dann bekomme ich einen Fulltime-Job, und er kann seinen Fick kriegen, um den Deal zu zementieren. Vielleicht.
DOSSIER
JAMES WATERMAN
Daß der junge James Waterman Studentenführer wurde, hatte er einem neurotischen Assistenzprofessor und einem Officer der State Police zu verdanken. Die Episode verfolgte ihn immer noch immer bis in seine Träume.
Die Sache hatte sich während Jamies zweitem Studentenjahr in Albuquerque zugetragen. Er war ein stiller Student, ein Einzelgänger, der zu seinen Seminaren ging und seine Arbeit machte, aber nicht viel Kontakt mit den anderen Studenten hatte. Die meisten seiner Lehrer erinnerten sich — wenn überhaupt — an einen ernsthaften jungen Mann mit dem kupferfarbenen, breitwangigen Gesicht eines Indianers, der in den Seminaren kaum je ein Wort sagte, aber hervorragende Arbeiten abgab. Jamie bekam in den meisten Seminaren sehr gute Noten, erntete aber weder bei seinen Kommilitonen noch beim Lehrkörper des Fachbereichs irgendeine Anerkennung.
Er lebte abseits des Campus bei Freunden seines Großvaters, einer Navajo-Familie, die eine Modeboutique auf der Altstadt-Plaza von Albuquerque hatte. Jamie fuhr mit einem gebrauchten Motorroller hin und her und verdiente sich ein paar Dollar, indem er am Wochenende im Laden aushalf.
Obwohl es so gut wie niemand bemerkte, war Jamie beinahe ein Einserstudent. An dem Beinahe war sein Shakespeare-Seminar im zweiten Studienjahr schuld.
Den Erstsemester-Einführungskurs in englischer Literatur hatte Jamie erfolgreich absolviert. Seine ersten Begegnungen mit dem reichen Schrifttum, das mit Beowulf begann und sich über die Jahrhunderte hinweg bis zu Eliot und Ballard erstreckte, hatten ihm Spaß gemacht. Vor Kipling mit seiner ›Bürde des weißen Mannes‹ war er anfangs allerdings zurückgeschreckt. Aber die schlichtweg wunderbaren, abenteuerlichen Gedichte und Geschichten des Mannes hatten dann doch sein Herz erobert.
Im Shakespeare-Seminar ging es ganz anders zu. Unter Lehrtätigkeit verstand Assistenzprofessor Ferrara, daß er den Studenten auf seinem Schreibtisch stehend alle Rollen der Stücke des Barden laut vorlas, wobei er dramatisch deklamierte und die Luft mit Gesten durchschnitt. Es dauerte nur eine Woche, bis Jamie begriff, daß der kleine Ferraro — ein Mann in mittleren Jahren — ein gescheiterter Schauspieler war, der all seine Seminare zu seiner persönlichen Bühne umfunktionierte.