In der Mitte des Semesters bekam Jamie Ärger mit Ferraro. Der kleine Mann stellte keine Fragen und verlangte keine schriftlichen Arbeiten. Er erwartete nur, daß seine Studenten seine Schreibtischauftritte mit verzückter Aufmerksamkeit verfolgten. Und dann applaudierten. Als Jamie fragte, wie Othello — angeblich doch ein intelligenter Menschenführer — so vollständig auf Jagos durchsichtige Intrigen hereinfallen konnte, funkelte Ferraro ihn wütend an und erklärte ihm, er solle das Stück so oft lesen, bis er es verstanden habe. Als Jamie aufrichtig verwirrt fragte, ob Rosenkranz und Güldenstern Homosexuelle sein sollten, erwiderte Ferraro kalt: »Ich werde nicht zulassen, daß mein Seminar in einen Zirkus verwandelt wird.«
Natürlich befaßte sich Jamie in erster Linie mit anderen Themen: Geologie, Chemie, höhere Mathematik, Geschichte. Aber er hatte den Eindruck, daß er für die Shakespeare-Prüfung in der Mitte des Semesters ebenso gut vorbereitet war wie jeder andere im Seminar. Er hatte die Stücke gelesen und sich die Videos angesehen. Er hatte die kritischen Analysen nachgeschlagen, die in Ferraros Literaturliste standen. Da traf es ihn wie ein Schlag, als Ferraro die Noten vorlas und verkündete, James Waterman habe nicht bestanden.
Jamie, der so schockiert war, daß er innerlich zitterte, blieb nach dem Seminar noch da und fragte, ob er den Test mitnehmen könne. Ferraro lehnte rundweg ab. Jamie sah den Stapel der blauen Mappen auf dem Schreibtisch des Mannes und fragte, ob er seinen Test sehen und ihn mit ihm durchgehen könne, um herauszufinden, wo seine Fehler gelegen hätten.
»Sie dürfen Ihre blaue Mappe nicht sehen«, sagte Ferraro. Trotz seiner dick besohlten Schuhe, die ihn größer machen sollten, mußte er sich nun, wo er auf dem Boden des Seminarraums stand, den Hals verrenken, um Jamie ins Gesicht zu schauen.
»Aber es ist mein Test«, sagte Jamie.
Ferraro legte eine Hand auf den blauen Stapel. »Diese Prüfungsunterlagen sind Eigentum der Universität, nicht der Studenten. Sie dürfen Ihren Test nicht an sich nehmen. Ich verbiete es.«
Dann drehte er sich hoheitsvoll um und ging zur Tür. Sein Gespräch mit Jamie war beendet, soweit es ihn betraf.
Jamie wurde nun erst richtig wütend. Er ging den blauen Stapel durch, fand seine Mappe und blätterte rasch darin. Nirgendwo war etwas angestrichen. Kein Vermerk. Überhaupt nichts, nur eine große rote Sechs auf dem Umschlag.
»Was machen Sie da?« kreischte Ferraro von der Tür her. »Legen Sie das hin!«
Mit der Prüfungsmappe in der Hand marschierte Jamie auf den kleinen Mann zu. »Sie haben meinen Test nicht einmal gelesen! Sie haben mich einfach durchrasseln lassen, als Sie meinen Namen auf dem Umschlag gesehen haben!«
»Diese Prüfungsmappe ist Eigentum der Universität!« brüllte Ferraro und zeigte mit einem zitternden Finger auf Jamie. »Sie dürfen sie nicht aus diesem Seminarraum entfernen! Das ist Diebstahl!«
Jamie drängte sich an dem Assistenzprofessor vorbei, die Prüfungsmappe fest umklammert, die Zähne vor Wut zusammengebissen.
»Damit gehe ich zum Studentenausschuß«, rief er über die Schulter zurück. »Und zum Dekan!«
Und er marschierte den Flur entlang, ohne auf die erschrockenen Blicke der Studenten zu achten, während Ferraro brüllte: »Dieb! Haltet den Dieb!«
Niemand versuchte, Jamie aufzuhalten. Er ging zu seinem Motorroller und fuhr zu dem Haus des Navajo-Ladenbesitzers zurück, in dem er ein Zimmer gemietet hatte.
Der Officer der State Police kam just in dem Augenblick, als sich die Familie zum Abendessen zusammensetzte. Die Türglocke ertönte, und eine der Töchter ging hin und machte auf. Sie kam mit langem Gesicht und ängstlichem Blick zurück.
»Es ist ein Polizist. Er will dich sprechen, Jamie.«
Jamie, der sich fragte, ob er mit seinem Motorroller irgendwelche Verkehrsregeln übertreten hatte, ging zur Tür. Mit seiner Uniform, der verspiegelten Sonnenbrille und dem breitkrempigen Hut sah der Polizist so aus, als wäre er ungefähr drei Meter groß. Die Pistole in dem Halfter an seiner Hüfte wirkte riesig.
»James Waterman?« fragte er mit der Stimme eines Roboters.
Jamie nickte. Seine Gedanken rasten.
»Bei uns liegt eine Anzeige gegen dich vor. Du sollst Staatseigentum entwendet haben.«
»Was?« Jamie bekam weiche Knie.
Der Ladenbesitzer kam hinter Jamie herbei und legte ihm schützend eine Hand auf die Schulter.
»Sieht so aus, als würdest du beschuldigt, einige Papiere der Universität gestohlen zu haben«, sagte der Polizist. »Du stehst am Rand eines tiefen Lochs, junger Mann.«
»Es ist mein Prüfungsbogen«, sagte Jamie leise. »Mein Professor wollte mir meinen eigenen Prüfungsbogen nicht zurückgeben.«
Der Polizist nahm bedächtig seine Sonnenbrille ab. Sofort bekam sein Gesicht menschliche Züge. »Geht es darum?«
Jamie nickte. »Er ist in meinem Zimmer. Meine Semester-Zwischenprüfung.«
»Der Junge ist kein Dieb«, sagte der Ladenbesitzer. »Er ist Student an der Universität. Hat sein Leben lang noch nie irgendwelche Schwierigkeiten gehabt.«
»Ein Testbogen? Dein eigener?« Der Polizist machte ein ungläubiges Gesicht.
»Ich kann ihn Ihnen zeigen. Ich habe ihn mitgenommen, um ihn morgen dem Studentenausschuß vorzulegen. Der Professor hat mich durchrasseln lassen, ohne überhaupt zu lesen, was ich geschrieben habe.«
Der Polizist ließ die Luft aus den aufgeblasenen Wangen. »In Ordnung. Gleich morgen früh machst du, daß du zur Universität kommst, und gibst dieses Papier dem Professor, dem du es weggenommen hast. Verstanden? Gleich morgen früh. Sonst beantragt er womöglich noch einen Haftbefehl, und wir müssen eine Fahndung nach dir rausgeben.«
»Jawohl, Sir. Gleich morgen früh.«
Der Polizist setzte die Sonnenbrille wieder auf und ging die Stufen hinunter zu seinem wuchtig wirkenden Wagen, wobei er etwas über gefährliche Kriminelle und schweren Diebstahl vor sich hinmurmelte.
Nach einer schlaflosen Nacht gab Jamie dem Assistenzprofessor den Testbogen zurück. Aber erst machte er noch zwei Fotokopien davon. Eine gab er dem Dekan, die andere dem Vorsitzenden des Studentenausschusses. Zwei spannungsgeladene Tage verstrichen, dann bat der Dekan Jamie in sein Büro. Ferraro war schon da. Eine kleine Kugel aus Wut und Nervosität, saß er auf einem Stuhl, der zwei Nummern zu groß für ihn zu sein schien.
Von dem bequemen Drehsessel hinter seinem breiten Schreibtisch aus winkte der Dekan Jamie zu einem harten Holzstuhl, der davor stand. Er war ein liebenswürdiger, bartloser Weihnachtsmann mit rosaroten Wangen, der im Ruf stand, Schwierigkeiten nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen.
»Ich glaube, Sie schulden Mister Ferraro eine Entschuldigung«, sagte der Dekan mit freundlichem Lächeln.
Jamie sagte nichts. Ferraro sagte nichts.
»Ihre blaue Mappe ist wirklich Universitätseigentum, wissen Sie. Technisch gesprochen hatten Sie nicht das Recht, sie an sich zu nehmen.«
Jamies Kehle fühlte sich eng und trocken an. »Ich hatte das Recht zu sehen, was drinstand. Ich hatte das Recht, darüber mit meinem Lehrer zu sprechen.«
Der Dekan nickte. »Deshalb sind wir hier. Um den Inhalt Ihres Tests zu erörtern. Mister Ferraro, können Sie erläutern, welche Fehler diesem jungen Mann bei seinen Gedanken über Othello unterlaufen sind?«
Allmählich dämmerte es Jamie, daß der Dekan keineswegs die Absicht hatte, sich mit seinem ›Diebstahl‹ zu befassen. Ferraro nuschelte sich durch eine Serie von Ausflüchten, was Jamies Test betraf; es lief darauf hinaus, daß Jamie nichts von Shakespeares Werk verstand.