Nach etlichen Minuten gingen Ferrara die Worte aus. Der Dekan nickte erneut und setzte sein Lächeln wieder auf. Er faltete die Hände auf seinem Schreibtisch und sagte: »Ich glaube, wir haben hier ein Kommunikationsproblem. Lassen Sie mich einen Kompromiß vorschlagen. Mister Waterman wird bescheinigt, daß er das Seminar erfolgreich abgeschlossen hat, ohne daß er an den restlichen Sitzungen teilnehmen muß. Wären Sie damit beide einverstanden?«
Ferraro warf einen Blick auf Jamie und schaute dann schnell weg.
»Welche Note bekomme ich?« fragte Jamie.
»Ich glaube, eine Drei reicht für dieses Gentlemen’s Agreement«, antwortete der Dekan.
Jamie schüttelte den Kopf. »Das vermasselt mir meinen Durchschnitt.«
Das Lächeln des Dekan wurde wächsern. »Ihr Notendurchschnitt wird doch eine Drei überstehen, glaube ich.«
»Wenn man bedenkt, daß Sie eigentlich durchgefallen sind«, sagte Ferraro, »sollten Sie für eine Drei dankbar sein.«
»Ich bin durchgefallen, weil Sie meinen Test nicht gelesen haben.«
»Das ist eine Lüge!«
»Na, na«, sagte der Dekan beschwichtigend. »Mister Waterman, wenn Sie mit einer Drei nicht zufrieden sind, erlaube ich Ihnen, das Seminar nächstes Semester zu wiederholen. Weiter werde ich Ihnen nicht entgegenkommen.«
Jamie akzeptierte die Drei nur bis zur nächsten Wahl der Mitglieder des Studentenausschusses. Zum ersten Mal in seinem Leben gab es ein Thema, für das er sich engagierte: die arrogante Behandlung, die er selbst seitens der Fakultät und der Verwaltung erfahren hatte. Er mußte sich seinen Kommilitonen gegenüber öffnen, mußte lernen, sie anzulächeln und sie zu begrüßen, ihnen zuzuhören und ihnen seine Geschichte zu erzählen. Sein ›Diebstahl‹ wurde ein cause celebre auf dem Campus und spülte ihn mühelos auf einen Sitz im Ausschuß. Er haßte die Kampagne vom ersten bis zum letzten Moment, haßte das falsche Lächeln und die geheuchelte gute Laune, haßte es, Leuten die Hand geben zu müssen, die ihn noch vor ein paar Wochen ignoriert hatten.
Aber er biß die Zähne zusammen und stand es durch. Und gewann.
Sobald er im Studentenausschuß saß, stellte Jamie fest, daß es wesentlich wichtigere Probleme als Ferraro gab, mit denen man sich befassen mußte. Studentenwohnungen, die Qualität des Essens in der Cafeteria, Computerzeit für Studenten — das waren reale und drängende Probleme, die alle betrafen. Er vergaß die Sache mit Ferraro. Beinahe. Er wurde das am härtesten arbeitende Mitglied des Studentenausschusses.
In seinem Abschlußjahr wurde Jamie zum Vorsitzenden des Studentenausschusses gewählt. Als er erfuhr, daß sein treuester Freund in Ferraros Seminar litt und daß es in der Zwischenprüfung wieder um Othello gehen würde, bat Jamie seinen Freund in aller Stille, seine alte Arbeit über Shakespeare abzuschreiben und als seine eigene einzureichen. Der Student bekam eine Zwei plus. Jamie stellte Ferraro in seinem kleinen, mit Büchern vollgestopften Büro zur Rede. Niemand wußte es, nur der Assistenzprofessor, Jamie und sein Spießgeselle.
Jamies alte Drei wurde zu einer Zwei plus verbessert. Er bestand sein Examen mit ›sehr gut‹. All seine Freunde gratulierten ihm, aber Jamie fand keine Freude an seinem Sieg. Die Erinnerung daran machte ihm in seinen Träumen noch immer zu schaffen.
ROM
Die Konferenz war stürmisch, beinahe chaotisch. Sechs Dutzend der besten Wissenschaftler der Welt, Vertreter der Fachgebiete Geologie, Biologie, Physik, Chemie und Astronomie, benahmen sich wie sechs Dutzend ungebärdige Kinder.
Pater DiNardo strich sich mit einer Hand über den rasierten Schädel, während er die Ohren vor den lauten, streitenden Stimmen zu verschließen versuchte. Eine Notkonferenz, in der Tat, dachte er. Diese Konferenz entwickelt sich selbst zu einem Notfall. Nicht einmal Brumado persönlich kann diese Meute unter Kontrolle halten.
Die Konferenz fand in einem Saal statt, den das italienische Luftfahrtinstitut dem Marsprojekt großzügig zur Verfügung gestellt hatte. Die Fenster des großen Raumes waren mit schweren Vorhängen verhängt, aber DiNardo kannte Rom so gut, daß er praktisch durch die Vorhänge hindurchschauen konnte. Jenseits der Via Praetoriano lag der Bahnhof, und hinter diesem Monument der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts erhoben sich die müden alten sieben Hügel mit dem uralten Forum und dem Kolosseum, ehernen Zeichen der Blütezeit Roms. Der Vatikan lag ganz auf der anderen Seite der riesigen Stadt, so weit entfernt vom Luftfahrtinstitut, wie es nur ging.
DiNardo sehnte sich nach der Stille des Vatikans. Trotz der Touristen, die durch den Petersdom strömten, würde es dort stiller und ordentlicher zugehen als bei diesem Beinahe-Krawall. Andererseits hatten die meisten der hier anwesenden Männer und Frauen ihre normale Arbeit unterbrochen, um eilends in die ewige Stadt zu reisen. DiNardo fragte sich, wie gelassen er wäre, wenn er plötzlich zu einer dringenden Konferenz gerufen würde, neun oder zehn Stunden im Flugzeug sitzen und sich dann noch ein paar Stunden lang im Schweiße seines Angesichts damit herumärgern müßte, sein Gepäck durch den Zoll zu bringen.
Er stöhnte innerlich, als ein Mann mit gerötetem Gesicht, dessen Namensschild am Revers ihn als Geologen aus Kanada auswies, einen hitzigen jungen Astronomen aus Chile zu überschreien versuchte, der ihn unterbrochen hatte.
Alberto Brumado, der mitten an dem langen Tisch stand, der vor dem Auditorium auf der Bühne aufgestellt worden war, schlug plötzlich so heftig mit der Faust auf den Tisch, daß die sechs Männer und Frauen links und rechts neben ihm erschrocken zusammenfuhren.
»Sie setzen sich jetzt beide hin«, rief Brumado in das Mikrofon vor sich. »Setzen Sie sich. Sofort!«
Es wurde mit einemmal still im Raum. Der chilenische Astronom sank auf seinen Stuhl. Der Geologe mit dem roten Gesicht funkelte ihn einen Moment lang an, dann setzte er sich ebenfalls.
Brumado fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. »Unsere Erregung trägt den Sieg über die Vernunft davon«, sagte er in normalerem Ton. »Wir machen eine Viertelstunde Pause. Wenn wir zurückkommen, sollten wir alle daran denken, daß wir Männer und Frauen der Wissenschaft sind, keine Politiker oder Straßenhöker. Ich erwarte eine rationale Diskussion, bei der die üblichen Anstands- und Höflichkeitsregeln strikt beachtet werden.«
Wie mürrische, schuldbewußte Studenten verließen die Wissenschaftler nacheinander den großen Saal. Sie waren allesamt führend auf ihren Gebieten, wie DiNardo wußte. Forscher von Weltrang. Nach der inoffiziellen Zählung des Priesters waren mindestens vier Nobelpreisträger in der Gruppe. Die Besten der Besten.
Er ging eine Treppe hinunter zur Herrentoilette. Als er sich durch die Menge am Erfrischungstresen drängte, registrierte er zerstreut, welche Nationalitäten sich für Kaffee anstellten und welche für Tee. Die Amerikaner tranken größtenteils Saft. Mit viel Eis natürlich.
Valentin Gretschko stand schon an einem der Urinale. Der russische Physiker hatte den Ruf, fortwährend Unmengen von Tee zu trinken und dann auf die Toilette zu laufen. Als Gretschko sich zu den Waschbecken wandte und den Reißverschluß seiner dunkelblauen Hose hochzog, tat DiNardo so, als wäre er fertig.
Gretschko lächelte mit teebraunen Zähnen, als er DiNardo sah. Die beiden Männer bückten sich, um sich nebeneinander die Hände zu waschen. Der Priester sah im Spiegel über seinem Waschbecken, daß er sich hätte rasieren sollen, bevor er zu dieser Konferenz gekommen war. Sein Unterkiefer und der Schädel waren dunkel von Stoppeln. Dann warf er einen Blick auf Gretschkos Gesicht.
Der Direktor des russischen Raumforschungsinstituts war weit über sechzig, und sein schütteres Haar war völlig grau. Das Jackett seines dunklen Anzugs schien an ihm zu schlackern, als ob er in letzter Zeit Gewicht verloren hätte. DiNardo fragte sich, ob er krank war. Das seltsame kleine Lächeln, das Gretschko stets zur Schau trug, war noch da; die Welt schien ihn beständig zu verwirren. Dennoch hatte er sich mit Zähnen und Klauen an die Spitze der wissenschaftlichen Hierarchie in Rußland hochgekämpft; er war Mitglied ihrer Akademie und Chef des Instituts, das ihre Raumforschung leitete.