Als sie gemeinsam die Toilette verließen, fragte Gretschko: »Haben Sie sich von Ihrer Operation wieder gut erholt?«
»O ja«, sagte DiNardo und fuhr sich unbewußt mit der Hand über die Seite. »Solange ich aufpasse, was ich zu mir nehme, geht es mir bestens.«
Der Russe nickte. DiNardo bemerkte, daß ihre Anzüge beinahe denselben Farbton hatten. Abgesehen von meinem Kollar hätte unsere Kleidung aus demselben Laden stammen können, dachte er.
»Von Konferenzen wie dieser bekomme ich Magengeschwüre«, sagte Gretschko leise, als sie sich in der Teeschlange anstellten. »Hier schafft es nicht einmal Brumado, für Ordnung zu sorgen.«
»Wir haben eine gewichtige Entscheidung zu treffen: ob wir eine weitere Exkursion zum Grand Canyon erlauben sollen oder nicht. Wenn wir es tun, werden alle anderen Exkursionen verkürzt werden müssen.«
»Oder ganz ausfallen.«
»Wie stehen Sie dazu?« fragte DiNardo.
»In wissenschaftlicher Hinsicht habe ich keine definitive Meinung«, sagte der Physiker. Er senkte die Stimme so weit, daß DiNardo sich nahe zu ihm beugen mußte, um ihn trotz des Stimmengewirrs der Menge zu hören. »Aber ich kann Ihnen sagen, daß unsere Missionsleiter die Politiker bereits überredet haben, den Amerikaner noch einmal nach Tithonium fahren zu lassen.«
»Wirklich?«
Gretschko nickte. Sein immerwährendes Lächeln wich für einen Moment einem Gesichtsausdruck, der fast schon unmutig wirkte.
»Ich möchte wissen, wie die Amerikaner darüber denken«, sagte DiNardo nachdenklich.
»Da ist Brownstein. Den können wir fragen.«
Murray Brownstein war ein ganzes Stück größer als der italienische Priester und der russische Physiker, aber sein Rücken war derart gebeugt, daß er in seinem grauen Jackett und der grauweißen Khakihose fast schon wieder klein und schmächtig wirkte. Sein Gesicht war von der Sonne Kaliforniens gebräunt, sein einstmals goldblondes Haar ergraute allmählich und war so dünn, daß er es nach vorn kämmte, um seine hohe Stirn so weit wie möglich zu verdecken. Während DiNardo wie ein dunkelhäutiger, zu alter Ringer aussah und Gretschko einem freundlichen, verwirrten älteren Herrn glich, strahlte Brownstein eine intensive Unzufriedenheit aus, als ob es der Welt nie so recht gelänge, ihn glücklich zu machen.
Er sah Gretschko und DiNardo auf sich zukommen und machte mit den Augen sofort eine Geste zu einer leeren Ecke ein Stück den Flur hinunter. Wortlos fielen die drei Männer in Gleichschritt und entfernten sich von der Menge am Erfrischungstresen: Gretschko mit einem Glas Tee in der Hand, Brownstein mit einer Dose Cola Light, DiNardo mit leeren Händen.
»Wie denken Sie über das alles?« Brownstein sprach zuerst, als sie die Ecke erreichten. Seine Stimme war leise und nervös, wie die eines Verschwörers, der Angst hatte, daß jemand mithörte.
DiNardo machte eine italienische Geste. »Brumado hat unseren Kollegen und Kolleginnen eine Chance gegeben, ihrem Ärger Luft zu machen, aber jetzt geht selbst ihm allmählich die Geduld aus.«
»Das ist alles eine idiotische Zeitverschwendung«, sagte Brownstein bitter. »Unsere Regierung hat ihre Entscheidung schon längst getroffen.«
»Und sie gefällt Ihnen nicht?« fragte Gretschko.
»Ich mag es nicht, wenn wissenschaftliche Entscheidungen in Washington getroffen und mir dann einfach aufs Auge gedrückt werden.«
»Aber vielleicht ist es eine gute Entscheidung«, sagte DiNardo. »Schließlich ist der Canyon ein außerordentlich interessantes Gebiet. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wären die Teams auf dem Boden des Canyons gelandet.«
»Viel zu riskant für die erste Mission«, erklärte Gretschko kategorisch.
»Ich war damals anderer Meinung, und das bin ich auch jetzt noch«, sagte DiNardo ohne eine Spur von Verbitterung.
»Wissenschaftlich mag sie in Ordnung sein«, sagte Brownstein. »Was mich wurmt, ist die politische Seite. Wenn wir zulassen, daß die Politiker sich über unsere Beschlüsse hinwegsetzen …«
»Aber deshalb ist diese Konferenz doch einberufen worden«, unterbrach ihn DiNardo. »Damit wir Wissenschaftler unsere Entscheidung treffen und die Politiker dann davon unterrichten können.«
»Ist doch egal, welche Entscheidung wir treffen. Dieser verdammte Indianer wird nach Tithonium fahren, ob es uns paßt oder nicht.«
»Sie meinen Doktor Waterman.«
»Ja, richtig. Waterman.«
»Aber wenn diese Konferenz einhellig gegen eine Änderung des Missionsplans votiert«, sagte Gretschko, »wird das die Politiker zwingen, sich die Sache noch einmal zu überlegen.«
»Nein, wird es nicht. Die Japse haben dem neuen Plan auch schon zugestimmt.«
»Tatsächlich?«
Brownstein nickte grimmig. »Tanaka hat im selben Flugzeug gesessen wie ich. Er war zufällig gerade am CalTech, als die Konferenz einberufen wurde. Er hat mir erzählt, daß Tokio und Washington sich darauf geeinigt haben, ihr Okay zu dem Tithonium-Abstecher zu geben.«
»Ohne ihre eigenen Wissenschaftler oder Missionsleiter zu konsultieren?« Gretschko schien schockiert zu sein.
»Das Thema ist vom Tisch«, sagte Brownstein. »Wir holen uns hier bloß einen runter.«
DiNardo hob leicht die Augenbrauen.
»Sofern wir nicht beschließen, uns dagegen zu wehren«, fügte Brownstein hinzu.
»Nein«, sagte der Priester.
Die beiden anderen Männer starrten ihn an. Brownstein knurrte beinahe: »Wollen Sie sich tatsächlich von so einem ignoranten Haufen von Politikern sagen lassen, was wir tun sollen?«
»In diesem Fall schon.«
Brownstein schüttelte den Kopf, eher zornig als traurig. Gretschko fragte: »Warum?«
»Es gibt mindestens zwei triftige Gründe, sich dieser Entscheidung nicht zu widersetzen.«
»Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur einen sehe«, sagte Brownstein. »Wenn wir den Politikern das durchgehen lassen, werden sie uns demnächst noch sagen, wie wir unsere Schuhe zubinden sollen!«
»Als Geologe«, sagte DiNardo, »bin ich mit Waterman einer Meinung. In Anbetracht der begrenzten Zeit und der Beschränkungen in bezug auf die Ausrüstung und die Vorräte dieser Mission ist der Canyon das denkbar beste Ziel.«
»Und die Vulkane sollen gänzlich ausgelassen werden?« fragte Gretschko. Sein dünnes kleines Lächeln schien Brownstein zu irritieren.
»Falls wir uns für eins von beidem entscheiden müssen, würde ich sagen, ja, lassen wir die Vulkane ganz aus. Ich glaube aber, daß wir zumindest eine flüchtige Erkundung des Pavonis Mons vornehmen können. Wenigstens ein paar Tage.«
»Das ist Ihre berufliche Meinung, nicht wahr?« fragte Brownstein.
»Ja. Als Geologe stimme ich den Politikern zu.«
»Sie haben gesagt, es gäbe zwei Gründe«, hakte Gretschko nach.
»Der zweite Grund ist politischer Natur. Eigentlich«, sagte der Priester und zwang sich, Brownstein anzulächeln, »eine Mischung aus Wissenschaft und Politik.«
Er hielt inne, bis Brownstein ungeduldig fragte: »Und, wie lautet er?«
»Ich glaube nicht, daß es klug ist, gegen die Politiker zu kämpfen, wenn sie eine Entscheidung getroffen haben, die in wissenschaftlicher Hinsicht einigermaßen vernünftig ist.«
Bevor einer der beiden anderen ein Wort sagen konnte, fuhr DiNardo fort: »Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, daß unser Team Spuren von Leben finden wird, in dem Canyon am größten. Ich bin bereit, darauf zu wetten, daß sie dort etwas finden. Etwas, das die Politiker zwingen wird, weiteren Missionen zuzustimmen.«