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Ein Roter auf dem Roten Planeten, sinnierte Jamie. Ich bin hier, aber nur durch blindes Glück. Sie akzeptieren mich, aber DiNardo war ihre erste Wahl; ich bin nur ein Ersatz.

Ja, hörte er die leise Stimme seines Großvaters. Aber du bist hier, auf dem Mars, und der Anglo-Priester nicht.

Jamie hätte beinahe gelächelt. Für seinen Großvater war sogar ein Jesuit aus dem Vatikan ein Anglo. Jamie freute sich, daß er zu dem ersten Forscherteam auf dem Mars gehörte, doch gerade diese Freude rief ein latentes Schuldgefühl in ihm wach. Er hatte dieses Vorrecht auf Kosten des Leids anderer errungen. Ein echter Navajo würde Angst vor Vergeltung haben.

Wosnesenksi stieß sich vom Tisch ab und stand auf.

»Wir sollten jetzt Schlafengehen«, sagte er barsch, als rechnete er mit Widerspruch. »Morgen müssen wir für die Ankunft des zweiten Teams bereit sein. Und bevor wir zu Bett gehen, müssen wir noch die Anzüge reinigen und ordentlich verstauen.«

Niemand widersprach, obwohl Tony Reed etwas murmelte, das Jamie nicht mitbekam. Sie waren alle müde, aber sie wußten, daß die Raumanzüge ordentlich gewartet werden mußten.

Das Programm für morgen würde genauso hart sein wie das dieses ersten Tages. Die Spannungen und Feindseligkeiten, die auf ihrem neunmonatigen Flug entstanden waren, hatten sich nicht in Luft aufgelöst, nur weil sie den Fuß auf den Mars gesetzt hatten. Vielleicht in den nächsten Tagen, dachte Jamie, wenn wir viel zu tun haben und draußen herumstreifen können, vielleicht ändern die Dinge sich dann. Vielleicht dann.

Nachdem er seinen Anzug mit dem Staubsauger vom Staub befreit und ordentlich an das Gestell neben der Luftschleuse gehängt hatte, kam Jamie auf dem Weg zu seinem Quartier an dem von Ilona Malater vorbei. Die Falttür zu ihrer Kabine war offen. Sie klebte gerade ein abgegriffenes altes Foto an die Trennwand neben ihrem Bett.

Sie bemerkte Jamie und sagte über die Schulter hinweg:

»Komm einen Moment herein.«

Jamie fühlte sich ein wenig unbehaglich. Er zögerte auf der Schwelle.

»Ich werde dich schon nicht verführen, roter Mann«, sagte Ilona leise, mit kehliger Stimme. »Nicht in unserer ersten Nacht auf dem Mars.«

Jamie blieb an der Tür stehen. Er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Möchtest du mein Familienalbum sehen?« fragte Ilona mit einem herausfordernden Lächeln.

An der Wand hing nur das eine Foto. Jamie trat näher und sah einen hochgewachsenen, müden Mann in einer schmutzigen Soldatenuniform auf einer mit Trümmern übersäten Stra

ße stehen, die Hände über den Kopf erhoben; ein halbes Dutzend Soldaten in einer anderen Uniform bedrohten ihn mit Maschinenpistolen.

»Das ist mein Großvater, im Jahr 1956«, sagte Ilona. Ihre Stimme wurde plötzlich lauter und schrill. »In Budapest. Das sind russische Soldaten. Die Russen haben meinen Großvater schließlich aufgehängt. Sein Verbrechen war, daß er sein Land gegen dieses Volk verteidigt hat.«

»Wir sind jetzt auf dem Mars«, sagte Jamie sanft.

»Ja. Und?«

Jamie drehte sich um und verließ ihre Kabine ohne ein weiteres Wort. Ilona würde Wosnesenski weiterhin piesacken, wie sie es all die langen Monate ihres Fluges hindurch getan hatte.

Sie glaubte, sie hätte einen triftigen Grund, alle Russen zu hassen. Während der ganzen Jahre des Trainings hatte sie ihren Haß geschickt verborgen. Und ihn genährt. Jetzt trat er offen zutage. Jetzt, wo er uns alle umbringen könnte.

Wir bringen alles mit, sagte sich Jamie. Wir kommen mit Worten des Friedens und der Liebe zu einer neuen Welt, aber wir tragen all die alten Ängste und Abneigungen mit uns herum, wohin wir auch gehen.

Er ließ sich total erschöpft auf sein Feldbett fallen, ohne sich erst noch die Mühe zu machen, sich auszuziehen. Fast eine Stunde später lag er immer noch wach auf dem schmalen Feldbett in seiner Kabine und machte sich Gedanken über Ilona. Die Kuppel war jetzt dunkel, aber nicht still. Das Metall und der Kunststoff knarrten und ächzten, als die Kälte der Marsnacht ihre eisige Faust fester schloß. Die Pumpen tuckerten leise, und die Lüfter summten. Die Psychologen waren der Meinung gewesen, daß solche Geräusche auf die einsamen Forscher beruhigend wirken würden. Wenn die Maschinengeräusche plötzlich verstummten, würde sie dies warnen, ihnen signalisieren, daß sie sich in einer gefährlichen Situation befanden, so wie das jähe Aussetzen der Triebwerke eines Flugzeugs sofort das Adrenalin fließen läßt.

Als Jamie jedoch auf seinem Feldbett lag, hörte er ein anderes Geräusch. Ein rhythmisches Seufzen, das kam und ging, einsetzte und wieder aufhörte. Ein zartes Wispern, fast wie ein leises Stöhnen, so schwach, daß Jamie es zuerst für Einbildung hielt. Aber es kam immer wieder, ein seltsames, geisterhaftes Atmen, das über die Hintergrundgeräusche der von Menschen gemachten Ausrüstung hinweg nur andeutungsweise zu hören war.

Der Wind.

Eine Brise wehte sanft über ihre Kuppel, strich mit ihren Fingern sachte über dieses neue, fremde Artefakt. Der Mars streichelte sie, wie ein Kind die Hand ausstrecken mochte, um etwas Neues und Unerklärliches zu berühren. Der Mars hieß sie sanft willkommen.

Jamie ließ seine Gedanken schweifen, während er die Hände hinter dem Kopf verschränkte und dem leisen Marswind lauschte, bis er schließlich einschlief.

Er träumte, daß Raumschiffe in New Mexico landeten, aus denen ganze Indianerstämme herausstürmten – nackt –, um das rauhe, karge Land für sich zu beanspruchen.

TRAINING

ANTARKTIS

1

Die McMurdo-Basis hatte für Jamie etwas von einer Kreuzung zwischen einer schäbigen Bergarbeiterstadt und dem Campus eines heruntergekommenen Gemeinde-Colleges. Sie lag am Rand des eiskalten McMurdo Sound, zwischen den schneebedeckten Bergen und dem Ross-Schelf, einem vierhundert Meter dicken Eisschild, das den größten Teil des Rossmeeres bedeckte. Die Gebäude – Metallhütten mit runden Dächern, quadratische Holzbaracken – sahen alle so aus, als stammten sie aus staatlichen Beständen. Das galt sogar für die neueren zweistöckigen Verwaltungsbüros aus Backstein. Es gab eine Ansammlung von Öltanks, endlose Reihen von Geräteschuppen, einen Eisbrecher der amerikanischen Küstenwache, der im Hafen vor Anker lag, und einen Flugplatz, der buchstäblich aus dem glitzernden Eisschelf herausgehauen war, das sich bis jenseits des Horizonts erstreckte und eine größere Fläche als Frankreich bedeckte.

Die Straßen waren mit Schneepflügen geräumt worden, aber kaum jemand wagte sich in den beißenden Wind hinaus. Die kälteste auf der Erde je aufgezeichnete Temperatur war in der Antarktis gemessen worden, 88,3 Grad Celsius unter Null.

Eine niedrige Mittsommernachtstemperatur auf dem Mars, wie Jamie wußte.

In der Hütte, die dem Trainingsteam des Marsprojekts zur Verfügung stand, war es dank des neuen, im vergangenen Jahr installierten Atomstromsystems beinahe behaglich warm.

Umweltschützer alten Stils hatten dagegen protestiert, daß die Kernenergie in die Antarktis gebracht wurde, während die Umweltschützer neuen Stils gegen die weitere Verwendung von Öl protestierten, das die zunehmend verunreinigte antarktische Luft mit seinen rußigen Emissionen verschmutzte.

Jede Rekrutengruppe der Marsmission mußte sechs Wochen in der Antarktis-Station verbringen und lernen, wie es war, in einem abgelegenen Forschungsposten zu hausen, abgeschnitten vom Rest der Welt, eng zusammengepfercht in ziemlich unzulänglichen Einrichtungen mit wenigen Annehmlichkeiten und stark eingeschränkter Privatsphäre, wo man darum kämpfte, in einer öden, gefrorenen Welt aus Eis und bitterer Kälte zu überleben.