Sie schwatzten alle miteinander, Jamie, die beiden Kosmonauten, sogar Connors und die Frauen. Jamie hörte die Anspannung in ihren Stimmen, selbst wenn sie zu scherzen und zu flachsen versuchten. Sie haben Angst. Sie haben alle Angst.
Und ich auch.
Es war jetzt stockfinster. Jamie hörte das Seufzen der leichte Brise des Mars. Sanfte Welt, sagte er sich. Wenn du nur nicht so verdammt kalt wärst. Warum hast du sie so kalt gemacht, Menschenmacher? Oder warum hast du uns so schwach gemacht? Hat Coyote dich mit irgendeinem Trick dazu verleitet?
»Sprechen Sie«, sagte Wosnesenski. »Sagen Sie etwas, Jamie.
Lassen Sie uns wissen, daß es Ihnen gut geht.«
»Es wird allmählich… verflucht kalt… zu kalt… um viel zu reden«, keuchte er. Seine Beine fühlten sich steif an und schmerzten.
»Stellen Sie die Heizung in Ihrem Anzug auf maximale Leistung.«
»Schon geschehen.«
»Schauen Sie noch einmal nach.«
»Okay.«
Das Heizungsrädchen war bereits bis zum Anschlag aufgedreht, wie Jamie wußte. Er versuchte erneut, es zu bewegen, aber es ließ sich nicht weiterdrehen. Schade, daß wir keine Thermostatregulierung für den Planeten haben. Die würde verhindern, daß die Temperatur noch tiefer sinkt. Wäre doch nett.
Er stapfte weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt. Ich kann jeden Maultierhirsch in diesen Bergen einholen. Ich kann um den ganzen Mars herumgehen, wenn es sein muß. Zeig mir wie, Großvater. Führe mich.
Jamie erinnerte sich an den Fetisch, der in der Tasche seines Overalls steckte. Er wünschte, er könnte den Arm freibekommen, in die Tasche greifen und den Fetisch in die Hand nehmen. Er wußte, daß seine Macht ihn wärmen, ihm Kraft schenken würde.
Das Kabel straffte sich auf einmal und riß Jamie von den Fü
ßen. Er fiel nach hinten und schlug mit einem dumpfen Laut auf den Boden.
»Heilige Scheiße«, murmelte er.
»Was?«
»Was ist? Ist etwas passiert?«
Wosnesenski im einen Ohr, Joanna im anderen.
»Das Kabel hängt fest«, sagte Jamie. Er rappelte sich auf die Knie, zog an dem Kabel. »Herrje, fühlt sich an, als ob…« – er mußte nach Luft schnappen – »als ob der Motor der Winde eingefroren wäre.«
»Das darf eigentlich nicht passieren«, erklärte Wosnesenski.
»Ganz recht. Sie sagen es.« Jamie zog wieder an dem Kabel, legte sein ganzes Gewicht hinein. Es gab ein wenig nach, blieb wieder einen Moment lang hängen und kam dann plötzlich frei. Er taumelte auf groteske Weise zurück, ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und stieß einen Schwall von Obszönitäten aus, die er seit seiner Studentenzeit nicht mehr in den Mund genommen hatte.
»Jamie!« Joannas Stimme war schrill vor Angst. Es war fast ein Schrei.
»Okay… alles in Ordnung«, keuchte er. »Ich hab’s wieder freigekriegt.«
»Der Motor der Winde beheizt sich selbst«, sagte Wosnesenski, als wollte er beweisen, daß das, was geschehen war, nicht geschehen war.
»Stimmt«, sagte Jamie. Er schaute auf den Boden, um sich zu orientieren, und setzte sich dann wieder in Bewegung, wobei er darauf achtete, daß der Sand ein Dutzend Schritte zu seiner Rechten blieb.
Sicher, der Motor beheizt sich selbst. Bis zu welcher Temperatur? Fünfzig Grad minus? Hundertfünfzig? Jamie wollte nicht noch einmal auf sein Thermometer schauen. Die Zahlen würden bedeutungslos sein. Es war kalt. Er fühlte, wie seine Lebenswärme in die dünne, säuselnde Nachtluft entwich. Ihm war eiskalt. Er fror. Erfror.
Seine Füße schienen nicht mehr zu ihm zu gehören. Sie waren eiskalt und taub. Er stapfte weiter; zumindest gehorchten seine Beine noch den verbissenen Kommandos seines Gehirns.
Er lehnte sich ins Geschirr, schleifte das Kabel hinter sich her.
Wenn der Windenmotor kaputtgeht, sitze ich wirklich in der Patsche. Das verdammte Kabel wiegt zuviel, als daß ich es ohne die Hilfe eines Motors die ganze Strecke schleppen könnte.
Er hörte ein Summen in seinem Kopfhörer, fast rhythmisch, monoton.
»Was… ist das?«
»›Das Lied der Wolgaschiffer‹«, antwortete Wosnesenskis Stimme feierlich aus dem Dunkel. »Es ist seit undenklichen Zeiten von Menschen gesungen worden, die Frachtkähne auf der Wolga stromaufwärts gezogen haben. Ich dachte, es würde Ihnen helfen.«
»Klingt wie… ein Grabgesang.«
Wosnesenski hörte auf zu summen. »Wenn Sie meine Musik nicht zu schätzen wissen, dann reden Sie mit mir. Ich will Ihre Stimme hören.«
»Nicht genug Luft zum Reden.«
»Atmen Sie durch! Ich will wissen, daß Sie bei Bewußtsein sind und vorankommen.«
»Sie können mich doch keuchen hören, oder?«
»Ja, aber ich – Moment! Ich sehe Ihr Licht! Jamie, Sie sind so nah, daß ich das Licht Ihrer Helmlampe sehen kann! Wo ist das Fernglas? Ja! Es ist Ihre Helmlampe! Sie kommen näher!«
Wosnesenski redete dummes Zeug. Was für ein Licht sollte er da draußen auf diesem eisigen, leeren Hang wohl sonst sehen?
»Gehen Sie weiter, Jamie.« Tony Reeds Stimme. »Bleiben Sie jetzt nicht stehen.«
»Bleiben Sie jetzt nicht stehen«, wiederholte Wosnesenski noch eindringlicher.
»Was wollen Sie… denn machen… wenn ich stehenbleibe?
Kommen Sie… dann raus… und holen mich?«
»Wenn meine beiden Beine in Ordnung wären«, sagte Iwschenko, »würde ich mit Freuden herauskommen, um Sie zu empfangen.«
Jamie schüttelte den Kopf, obwohl er wußte, daß sie es nicht sehen konnten; sie hätten es nicht einmal sehen können, wenn sie im hellen, warmen Licht des Mittags neben ihm gestanden hätten. Iwschenko kann nicht laufen, und Mikhail kann nicht einmal aufstehen, soweit ich gehört habe.
»Jamie«, rief Joanna, »sprich mit mir, bitte. Erzähl mir von deiner Heimat in New Mexico. Ich bin noch nie dort gewesen.«
»Nicht meine Heimat. Ich habe keine… Heimat. Nicht in New Mexico… nirgends. Außer hier. Vielleicht hier. Der Mars ist meine Heimat.«
»Dann sag mir, was wir tun werden, wenn wir zur Erde zurückkehren«, sagte sie.
»Ich erzähle dir von Coyote.«
»Coyote?«
»Der Listenreiche. Macht immer Ärger.«
»Ja«, sagte Joanna. »Erzähl.«
»Kennst du… die Muster der Sterne? Die Sternbilder?«
Keine Antwort. Jamie stapfte keuchend weiter, bis er Joanna in seinem Kopfhörer hörte. »Sprich weiter.«
»Der Erste Mann und die Erste Frau… setzten die Sterne an ihre Plätze«, sagte er. »Sie hatten… alle Sterne… in einem Tuch. Wollten sie… an die richtigen Stellen… am Himmel setzen. Harmonie ist schön. Ordnung und… Harmonie.«
Das Kabel klemmte wieder; Jamie mußte sich mehr anstrengen, um es zu ziehen. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht ins Geschirr.
»Was ist dann passiert?« fragte Joanna.
»Der alte Coyote kam vorbei… sah, was sie machten. Er schnappte sich… das Tuch… wirbelte es herum… und herum… und schleuderte dann das ganze Tuch… mit all den Sternen… in den Himmel. So ist… die Milchstraße… entstanden.«
»Oh!« sagte Joanna.
»Coyote hat… die Harmonie des Himmels… zerstört. Er bringt immer… alles durcheinander.«
»Ein kosmologischer Mythos«, sagte Wosnesenski.
»Sozusagen.« Jamie fragte sich, mit welchen Tricks Coyote den Menschenmacher dazu gebracht hatte, den Mars so kalt zu machen. So unglaublich und gräßlich kalt. Dann erkannte er, daß Coyote ihn selbst und sie alle mit seinen Tricks dazu verleitet hatte, zu dieser toten Welt zu kommen. Dieser Welt des Todes.
Aber sie ist nicht tot, sagte eine Stimme in seinem Innern. Du hast hier Leben gefunden.
Jamie zwinkerte sich den Schweiß aus den Augen. Seltsam, daß ich Leben auf einer Welt gefunden habe, auf der wir alle sterben werden, dachte er. Seltsam, daß man schwitzt, während man sich zu Tode friert.