Wollen Sie nicht nach Hause?«
»Doch, natürlich.« Aber Jamie wußte, daß es nur die halbe Wahrheit war.
»Sie würden gern mit der Erforschung des Mars fortfahren, habe ich recht?« sagte Reed.
»Sie nicht?«
»Nein danke«, sagte Reed leidenschaftlich. »Ich habe genug von dieser Staubschüssel. Ich freue mich schon auf England, den Regen und die Blumengärten.«
Jamie dachte an die Wüste, in der seine Navajo-Vorfahren gelebt hatten. Wie sehr sie dem Mars gleicht; und wie anders sie doch auch wieder ist.
»Wenn Ihnen so melancholisch zumute ist«, scherzte Reed,
»dann sollten Sie vielleicht hierbleiben.«
»Ich wünschte, ich könnte es«, gab Jamie zu.
Reed zog eine Augenbraue hoch.
»Wie geht es Ihnen, Tony?« fragte Jamie.
»Gut. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.«
»Ich werde ein langes Gespräch mit Doktor Li führen, wenn wir wieder im Orbit sind«, erklärte Jamie. »Und mit der Flugleitung.«
»Meinetwegen?«
»Ganz recht.«
»Nicht nötig.«
»Das ist verdammt nötig«, widersprach Jamie. »Ich gehe bis ganz nach oben zu den Projektmanagern, wenn es sein muß.«
»Seien Sie nicht albern«, sagte Reed. »Und kommen Sie mir nicht wieder mit dieser Geschichte von wegen ›Sie haben mir das Leben gerettet‹.«
»Aber die werden Sie zum Sündenbock für alles machen, was bei der Mission schiefgegangen ist!«
Reeds Lächeln wurde bitter. »Na und? Die Mission braucht ein Opferlamm, oder nicht? Ein Mann ist in der Umlaufbahn ums Leben gekommen. Das gesamte Bodenteam wäre beinahe durch einen dummen Fehler gestorben. Sie können gern der Held der Mission sein, James. Ich bin der Sündenbock.«
»Das ist nicht richtig. Es ist nicht fair.«
Reeds Lächeln wurde noch bitterer. »Dann sollten Sie vielleicht wirklich lieber hierbleiben, mein heroischer Freund. Das ist Ihre einzige Chance, diese elende Rostkugel weiter erforschen zu können. Wenn wir erst einmal zu Hause sind und sie anfangen, alle Fehler zu sezieren, die wir gemacht haben, wird es keine weitere Mission zum Mars mehr geben. Nie mehr!«
Jamie sah, daß die anderen sich um sie versammelt hatten.
Ihre Mienen waren fragend. Selbst Wosnesenski schaute skeptisch drein und runzelte besorgt die Stirn. Sie hatten die Reihe der Spinde erreicht, wo ihre staubgesprenkelten Anzüge wie die zerbeulten Rüstungen von Rittern warteten, die den Heiligen Gral gesucht hatten.
Jamie drehte sich zu Reed um. »Bei uns wird es keine Sündenböcke geben«, sagte er ruhig. »Nicht bei uns. Wir sind ein Team. Auch wenn wir zur Erde zurückkommen, sind wir immer noch ein Team. Ohne Helden und ohne Sündenböcke.«
»Ich wünschte, es könnte so sein, Jamie«, sagte Reed mit echter Sehnsucht in der Stimme.
»Es wird so sein.«
»Unmöglich. Die Projektleiter werden mir nie wieder vertrauen. Ich werde mit einem höflichen Händedruck ausgemustert, und dann kann ich eine Privatpraxis aufmachen. Und denken Sie daran, was Mikhail zu gewärtigen hat. Unser edler Teamleiter hat jede Vorschrift im Regelbuch gebrochen und Li und den Flugleitern eine lange Nase gedreht. Mikhails Laufbahn ist beendet.«
Wosnesenski grunzte. »Dann gehe ich eben in Pension. Ich habe meinen Traum verwirklicht. Ich war der erste Mensch auf dem Mars. Ich werde nicht wiederkommen. Ich glaube auch nicht, daß überhaupt noch einmal jemand zum Mars kommen wird. Tony hat recht. Es wird keine weiteren Expeditionen geben.«
»Wie lange?« fragte Jamie. »Mein ganzes Leben lang? Hundert Jahre lang? Tausend Jahre? Das glaube ich nicht. Aber selbst wenn, was macht das schon? Eines Tages werden wir zum Mars zurückkehren, so sicher, wie die Sonne aufgeht.«
»Wirklich?«
»Ja! Weil wir es tun müssen. Die Menschheit muß es tun. Wir sind Forscher, Tony. Wir alle. Selbst Sie; deshalb sind Sie hier.
Es steckt uns im Blut, im Gehirn. Darum geht es bei der Wissenschaft. Menschen müssen lernen, müssen suchen, streben und forschen. Wir brauchen das, wie eine Blume Wasser und Sonnenlicht braucht. Das hat unsere Vorfahren veranlaßt, aus Afrika fortzuziehen und sich auf der ganzen Erde auszubreiten. Jetzt breiten wir uns im ganzen Sonnensystem aus, und eines Tages werden wir anfangen, zu den Sternen hinauszufliegen. Das können Sie nicht verhindern, Tony. Niemand kann es. Das ist es, was uns zu Menschen macht.«
Reed trat einen Schritt zurück und hob das Kinn noch ein wenig höher. »Sehr hübsche Rede, Jamie. Aber der größte Teil der Menschheit schert sich einen Dreck um den Mars oder um sonst etwas außer den eigenen schäbigen kleinen Begierden.
Sie werden das Marsprojekt aufgeben, Jamie. Sie werden es fallenlassen.«
»Sie werden es versuchen, ich weiß. Sie werden ihr Bestes tun, um uns den Hahn zuzudrehen. Aber ich werde auch mein Bestes tun. Denn ich werde keine Ruhe geben, bis sie eine weitere Expedition herschicken. Und wenn ich es mit bloßen Händen tun muß: Ich sorge dafür, daß wir zum Mars zurückkehren.«
Jamie steckte die Hand in die Tasche seines Overalls und holte seinen Bärenfetisch heraus. Er langte nach oben und stellte ihn auf das Bord neben seinen grauen Helm.
»Und zum Beweis dafür lasse ich diesen kleinen Kerl hier, damit er mich begrüßt, wenn ich wiederkomme.«
Alle starrten den Fetisch an. Jamie hatte ihn bis jetzt vor ihnen verborgen gehalten.
»Mein Großvater würde sagen, er hat einen mächtigen Zauber«, erklärte Jamie. »Aber der wahre Zauber ist in uns. Wir sorgen dafür, daß Dinge geschehen. Wir kommen zum Mars zurück – jeder von uns, der es wirklich will.«
Reed schnaubte. »Eine Geste.«
»Ein Symbol«, korrigierte ihn Jamie.
»Wo wir gerade von Gesten sprechen«, sagte Ilona, drängte sich zwischen den anderen durch und blieb zwischen Jamie und Wosnesenski stehen. »Ich hatte eigentlich vor, das unter vier Augen zu tun, sobald wir an Bord des Raumschiffes gewesen wären.«
Ilona zog das eselsohrige Foto aus ihrer Brusttasche, das sie über ihrer Liege an die Wand geklebt hatte. Sie sah Wosnesenski feierlich an und riß das Foto methodisch in kleine Fetzen.
»Mikhail, ich habe Ihnen und allen Russen auf dieser Mission Unrecht getan. Dafür bitte ich Sie um Entschuldigung. Sie haben uns das Leben gerettet, und es war falsch von mir, Ihnen persönlich etwas vorzuwerfen, was fünfzig Jahre zurückliegt.«
Wosnesenski trat völlig verblüfft von einem Bein aufs andere. »Nun… ich glaube…« stammelte er.
Ilona warf ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen so dicken Kuß, daß Wosnesenskis Gesicht so rot wurde wie sein Anzug. Alle lachten. Selbst Reed.
Jamie sah die anderen Mitglieder des Marsteams an. Einen nach dem anderen, von Abells grinsendem Froschgesicht bis zu Iwschenko, der sich schwer auf seine zwei Krücken stützte.
Mikhail hat recht gehabt, dachte er. Der Mars hat uns geprüft.
Jeden einzelnen. Keiner von uns ist noch der gleiche Mensch wie bei unserer Ankunft.
Sein Blick blieb an Joanna hängen, die ein wenig abseits von den anderen stand, stark und stolz. Sie erwiderte seinen Blick mit strahlenden Augen.
Die Heimreise wird interessant werden, dachte Jamie. Sehr interessant.
SOL 45
MITTAG
Die drei Aufstiegsmodule hoben nacheinander auf lodernden Flammenzungen von der Marsoberfläche ab. Ihre Raketentriebwerke kreischten wie davonjagende Dämonen und ließen Miniatursandstürme über die Landschaft fegen. Die untere Hälfte jedes L/AV blieb leer auf dem roten, staubigen Boden zurück.
Auf dem Mars kehrte wieder Stille ein. Der Wind seufzte, als wäre er traurig, wieder allein zu sein. Der Planet drehte sich weiter wie seit Anbeginn seiner Existenz. Hier und dort harrte das Leben in speziellen Nischen auf der bitterkalten kleinen Welt aus und saugte das Sonnenlicht und alle kümmerliche Feuchtigkeit auf, die es finden konnte.