Zehn ähnlich gekleidete und bepackte Gestalten arbeiteten sich durch den fauchenden Wind vom Bus zum Eingang vor, wo Jamie stand. Es fiel Jamie nicht schwer, die kleine Joanna Brumado unter den zehn auszumachen, die durch den Eingang strömten und sich nach dem kurzen Sprint vom Bus zur Tür der Hütte den pappigen Schnee von den Stiefeln stampften. Er sah auch, daß Antony Reed unter den Neuankömmlingen war.
Ebenso wie Franz Hoffmann.
Wortlos drehte Jamie sich zu der Holztreppe um, die zur Hauptetage der Hütte hinunterführte, und machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft.
Erst als die neue Gruppe kurz vor dem Mittagessen im Speisesaal zusammenkam, fand Jamie die Kraft, hinauszugehen und sie zu begrüßen.
Der Speisesaal war der größte Raum in der Hütte, die man dem Marsprojekt zur Verfügung gestellt hatte: Er bot vollen dreißig Personen an seinen langen Resopaltischen Platz. Joanna saß mit Tony Reed und Dorothy Loring, einer kanadischen Biologin, am Ende eines dieser Tische.
»Was dagegen, wenn ich mich dazusetze?« fragte Jamie.
Reed schaute auf. »Waterman? Was machen Sie denn noch hier?«
Jamie bemühte sich, eine ausdruckslose Miene beizubehalten, während er sich einen Stuhl heranzog.
»Ich bin gebeten worden, hierzubleiben und euch bei der Akklimatisierung zu helfen.«
Reed warf einen Blick zu Joanna hinüber, dann wandte er seine Aufmerksamkeit rasch wieder Jamie zu. »Ich verstehe.«
Das richtige Wort für Antony Reed war ›aalglatt‹. Er sah so aus, wie sich der Durchschnittsamerikaner einen Engländer aus der Oberschicht vorstellte, und tatsächlich war er auch beinahe einer. Sportliche, gleichwohl schmale und zierliche Figur, wie man sie von Tennis, Handball und vielleicht Polo bekommt. Hübsches Gesicht mit zierlichen Wangenknochen und scharf geschnittenem Profil. Ordentlicher kleiner Schnurrbart, sandfarbenes Haar, das ihm spitzbübisch in die Stirn fiel. Er trug einen königsblauen Overall mit exakter Bügelfalte und einen weißen Rollkragenpullover darunter, und es gelang ihm beinahe, den Eindruck zu erwecken, als sei das eine flotte Seglerkluft. Aber seine Augen waren zu alt für sein Gesicht, dachte Jamie. Eisblaue, kühl berechnende Augen.
Reed war Arzt. Er hatte es abgelehnt, die noble Praxis seines Vaters in London zu übernehmen, und es vorgezogen, als Fliegerarzt zum britischen Astronautenkorps zu gehen. Als die Europäische Gemeinschaft in das internationale Marsprojekt einstieg, hatte Reed sich sofort beworben. Er strahlte das ruhige Selbstvertrauen eines Mannes aus, der genau wußte, daß er zum Mannschaftsarzt der Marsexpediton ernannt werden würde.
Jamie setzte sich zwischen den Engländer und Joanna Brumado, die ihn zur Begrüßung anlächelte.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie noch hierbleiben würden«, sagte sie im Flüsterton, wie ein kleines Mädchen, das dazu erzogen worden war, so leise wie möglich zu sein.
»Es war Doktor Lis Idee«, erwiderte Jamie knapp.
»Der Kommandant der Basis wird euch bei der Besprechung gleich nach dem Mittagessen alles erklären.«
»Ich möchte wissen, ob unser schlauer Chinese irgendeine Art mano a mano in petto hat«, sinnierte Reed.
Jamie hätte ihn am liebsten wütend angefunkelt, aber er beherrschte sich.
»Mano a mano?« fragte Dorothy Loring. »Wie beim Stierkampf?« Sie war eine grobknochige Blondine, die ihren dicken Sweater und ihre schwere Jeans wie eine zweite Haut trug, eine moderne, von Wikingern abstammende Walküre. Sie war auf der Farm ihrer Eltern in Manitoba aufgewachsen, hatte an der McGill University promoviert und gleich nach der Promotion am Salk Institute in La Jolla zu arbeiten begonnen.
Reed zeigte mit den Augen hin. Am anderen Ende des Tisches saß Franz Hoffmann, ganz für sich allein. Er blickte aufmerksam und mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm eines Computers, den er vor sich auf den Tisch gestellt hatte.
Jamie sagte nichts.
Joanna auch nicht, aber ihre Augen zeigten, daß sie Reeds Andeutung verstand. Es waren wunderbar sanfte braune Augen, groß und feucht, weit auseinanderstehend wie die eines Kindes. Joanna war klein und rund und verschwand fast in einem unförmigen braunen Sweater. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von einer dunklen Masse von Haaren umrahmt, die sich dicht lockten, obwohl sie kurzgeschnitten waren. Für Jamie sah sie mit ihrem kleinen Wuchs und diesen großen braunen Augen, die bekümmert, ja beinahe verängstigt wirkten, wie ein heimatloses, verlorenes Kind aus.
»Unser Wiener Freund«, sagte Reed mit leiserer Stimme, »ist nicht sehr beliebt, fürchte ich.«
»Das sollten Sie nicht sagen«, wisperte Joanna.
»Warum nicht?« fragte Reed. »Guter Gott, der Mann hat den Charme eines preußischen Zuchtmeisters. Und die entsprechenden Tischmanieren.«
Loring brach in Gekicher aus und legte dann rasch die Hand vor den Mund, um es zu ersticken. Jamie, der von seinem Platz aus Hoffmann direkt vor Augen hatte, sah, daß der Österreicher kein einziges Mal von seinem Computer aufschaute und nicht einmal durch einen raschen Seitenblick zur Kenntnis nahm, daß außer ihm noch jemand im Raum war.
3
»Ich verstehe nicht«, sagte Franz Hoffmann. »Glaubt Doktor Li, daß ich einen Assistenten brauche? Einen Sherpa-Führer, der mir auch noch das Gepäck den Berg hinaufträgt?«
Jamie hielt seine aufkeimende Wut nur mit Mühe im Zaum.
Da er zu dem Schluß gekommen war, daß er Hoffmann in der engen, unter Schnee begrabenen Basis unmöglich aus dem Weg gehen konnte, wollte er versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen, indem er dem Österreicher anbot, ihm bei der Fortsetzung der Meteoritensuche draußen auf dem Gletscher zu helfen.
Hoffmann war gerade dabei gewesen, seine Kleidung auszupacken, als Jamie an die halb offenstehende Tür seines Zimmers klopfte. Wie der Zufall es wollte, war es derselbe Raum, den Dr. Li gerade verlassen hatte. Hoffmann hatte ihn jedoch bereits in sein persönliches Reich verwandelt. Eine anderthalb Meter lange Fotomosaik-Karte des Mars war an die senkrechte Wand über dem Etagenbett gepinnt. An die gebogene Wand neben dem Schreibtisch hatte der Geologe ein kleineres Satellitenfoto des Markham-Gletschers geklebt, auf dem die Stellen, wo man Meteoriten gefunden hatte, bereits mit roten Kreisen markiert waren. Auf der vom Staat gestellten Kommode mit den drei Schubladen stand ein gerahmtes Farbfoto, eine pausbäckige junge Frau mit zwei kleinen Kindern auf den Armen, die unsicher in die Kamera lächelte.
»Hören Sie«, sagte Jamie und lehnte sich an den Türstock,
»Li hat mich gebeten, Ihre Gruppe während des sechswöchigen Aufenthalts hier zu unterstützen. Wenn Sie daran interessiert sind, die Suche nach Meteoriten fortzusetzen, bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen.«
Hoffmann beäugte Jamie stumm, dann machte er sich wieder daran, zusammengelegte Kleidungsstücke aus einem großen Koffer auf dem Bett zu nehmen und in ordentlichen Stapeln in den Schubladen der Kommode zu verstauen.
»Ich kann Ihnen zumindest zeigen, welche Gebiete ich schon durchforstet habe«, sagte Jamie. »Außer, Sie wollen die Gebiete, in denen nichts gefunden worden ist, noch mal absuchen.«