»Haben Sie Angst, daß die anderen denken könnten, Sie würden besonders behandelt?«
»Ich werde doch besonders behandelt!«
»Und das gefällt Ihnen nicht?«
»Es könnte Sie Ihre Chance kosten, bei der Mission mit von der Partie zu sein.«
»Aber es ist wichtig für Ihren Vater, daß Sie zum Mars fliegen.«
Ihre Augen wurden noch größer.
»Ist es auch wichtig für Sie?« fragte Jamie.
»Wichtig? Daß ich zum Mars fliege?«
»Ganz recht.«
»Natürlich ist das wichtig! Glauben Sie, ich bin nur hier, um mir die Wünsche meines Vaters zu eigen zu machen und sie zu befriedigen?«
Irgendwo in seinem Innern registrierte Jamie, daß Joanna schön war. Ihr Körper war jedenfalls durchaus erwachsen; nicht einmal der unförmige Sweater konnte das verbergen. Es war ihr Gesicht, das ihr das verlorene, schutzlose Aussehen eines Straßenkindes verlieh, verletzlich, aber wissend. Und diese leise, flüsternde Stimme. Ihre tiefen braunen Augen waren groß und fast so dunkel wie die von Jamie.
Jamie schaute in diese leuchtenden Augen und sah Gefühle, die miteinander im Widerstreit lagen. Wovor hat sie Angst, fragte er sich. Sie sagt, sie will nicht die Schachfigur ihres Vaters sein, aber sie will auch keinesfalls auf der Strecke bleiben.
Das ist unverkennbar. Sie will zum Mars. Unbedingt.
»Ich werde Ihnen helfen«, sagte er. »Das ist jetzt mein Job.«
»Ich rufe meinen Vater an und erzähle ihm, was Doktor Li mit Ihnen gemacht hat. Es ist nicht fair, daß…«
Jamie brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. »Sie wollen doch nicht, daß Li und Ihr Vater Ärger miteinander bekommen. Das wäre schlecht für alle – und erst recht für Sie.«
»Aber Sie. Was ist mit Ihnen?«
Er lächelte gezwungen. »Die Navajos glauben, daß ein Mensch im Gleichgewicht mit der Welt um sich herum sein muß. Das bedeutet manchmal, daß man Dinge hinnehmen muß, die einem nicht besonders gefallen.«
»Das ist Stoizismus.«
»Ja, das ist es wohl«, sagte Jamie und gab sich alle Mühe, seine wahren Gefühle zu verbergen.
5
Ich wünschte wirklich, Pater DiNardo wäre hier, sagte sich Antony Reed zum zwanzigsten Mal an diesem Vormittag. Er ist der einzige, der diesen österreichischen Musterknaben in seine Schranken weisen könnte.
Reed saß an seinem Schreibtisch in dem kleinen Raum, der als Krankenrevier der Basis diente. Man hatte den Schnee vor dem einzigen Fenster des Raumes weggeschaufelt; blasses Sonnenlicht fiel herein, und durch die Dreifachscheiben zeigte sich ein milchiger, perlgrauer Himmel. Anstelle der Bücherregale und Geräteborde, mit denen die meisten Büros in der halb begrabenen Basis vollgestopft waren, enthielt das Krankenrevier einen Untersuchungstisch und medizinische Apparate.
Reed teilte sich den Raum mit dem ›Haus‹-Arzt, einem Stabsarzt, der sich um die alltäglichen medizinischen Bedürfnisse der regulären Besatzung der Basis sowie der Marsrekruten kümmerte. Reeds Arbeit hatte mehr mit dem Computer auf dem Schreibtisch als mit Tabletten und Verbänden zu tun.
Für die Mitglieder des Trainingsteams fungierte er eher als Psychologe denn als Sanitätsoffizier.
Der Computerbildschirm zeigte, daß er als nächstes einen Termin mit Franz Hoffmann hatte. Reed verabscheute den österreichischen Geologen, verabscheute alles an ihm – besonders seine angeblichen Erfolge bei den weiblichen Trainingsteilnehmern. Er fragte sich immer wieder, wie eine anständige Frau mit einiger Selbstachtung sich von diesem arroganten Neonazi anfassen lassen mochte.
Doch die Geschichten waren zweifellos wahr. Hoffmann konnte charmant sein und mit Frauen umgehen. Und Reed merkte, daß er ihn darum beneidete.
Er beugte sich auf dem knarrenden Drehstuhl vor und ließ die Finger über die Tastatur des Computers fliegen. Er hatte Zugriff auf sämtliche Details der medizinischen und psychologischen Unterlagen aller Mitglieder des Trainingsteams. Vielleicht gab es bei Hoffmann etwas, mit dessen Hilfe man ihn für die Mission disqualifizieren konnte.
Eifrig durchsuchte Reed Hoffmanns Dossier. Der Gedanke, mit dem Österreicher neun Monate in einem engen Raumschiff verbringen zu müssen, deprimierte ihn zutiefst.
Nichts. Seine Akte war makellos. Sogar eindrucksvoll. Doktortitel in Physik und Geologie. Hervorragender Gesundheitszustand. Keinerlei aktenkundige psychologische Probleme bisher; soweit es den Unterlagen zu entnehmen war, hatte er nur ein einziges Mal Kontakt zu Psychologen gehabt, nämlich als er die Standardtests absolviert hatte, die zu den Voraussetzungen für die Teilnahme am Marsprojekt gehörten. Die Testergebnisse waren jämmerlich normal. Entweder ist er wirklich so langweilig, wie er zu sein scheint, oder er ist ein Meister darin, seine wahre Persönlichkeit zu verbergen, dachte Reed.
Natürlich kein Hinweis auf seine Affären. Solche Informationen gelangten selten in die Akte. Außer wenn es einen Vorfall gab, der so schlimm war, daß er nicht vertuscht werden konnte.
»Ahhh!« sagte Reed mit leiser Stimme, aber vernehmlich. Ein Vorfall, der so schlimm war, daß er nicht vertuscht werden konnte. Vielleicht ließ sich so etwas inszenieren.
Er brauchte ein Opfer. Eine Frau, die an Hoffmanns Annäherungsversuchen nicht nur Anstoß nehmen, sondern auch Stunk deswegen machen würde. Und er hatte auch schon eine im Auge.
Er ging die Dateien rasch durch und fand die Frau. Ihr Hintergrund und ihr Persönlichkeitsprofil waren nahezu ideal.
Nach dem, was Reed aus dem persönlichen Kontakt über sie wußte, würde die flegelhafte Art des Österreichers sie erschrecken und empören.
»Ist einen Versuch wert«, murmelte Reed, und ein schiefes kleines Lächeln breitete sich auf seinem hübschen Gesicht aus.
»Ich könnte mich sogar bereit finden, das arme Frauenzimmer hinterher zu trösten.«
Er löschte den Bildschirm und schaute erwartungsvoll zur Tür. Genau zum verabredeten Zeitpunkt klopfte Franz Hoffmann einmal an, öffnete dann die Tür und betrat das Krankenrevier. Er sah aus, als wäre er bereit, einen Ritterschlag zu empfangen. Das runde Gesicht war rasiert und rosarot geschrubbt, das Haar mit Gel zurückgekämmt, und er trug ein frisches, steifes Hemd und eine Hose mit einer Bügelfalte, mit der man Brot schneiden konnte. Sogar seine Schuhe waren poliert.
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte Reed vergnügt.
Während der oberflächlichen Untersuchung hatte Reed Mühe, ernst zu bleiben. Er mußte immer wieder an Brownings wundervolles Selbstgespräch im spanischen Kloster mit seiner perfekten Schlußzeile denken: »G-r-r – du Schwein!«
Reed plauderte freundlich und in seinem besten Ärzteton mit dem Österreicher. Hoffmann standen im Gespräch nur zwei Verhaltensweisen zu Gebote, soweit Reed erkennen konnte: entweder finsterer Argwohn oder blasierte Überheblichkeit. Der Österreicher nahm Reeds Freundlichkeit für bare Münze und reagierte darauf mit einem Hochmut, der Reed rasend machte. Er merkt nicht einmal, daß er es tut, dachte Reed.