»Ich verstehe.« Reed entspannte sich, lehnte sich wieder zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Selbstverständlich empfinden Sie so. Das ist eine vollkommen natürliche Reaktion.«
»Was soll ich tun?«
Er breitete vage die Hände aus. »Tun? Da können Sie gar nichts tun. Die Entscheidung, daß Waterman hierbleiben sollte, ist nicht von Ihnen getroffen worden; Sie sind nicht verantwortlich für sein Schicksal.«
»O doch, das bin ich! Verstehen Sie das nicht?«
Reed zeigte auf den Computerbildschirm, lächelte und sagte in seinem überzeugendsten Ton ärztlicher Autorität: »Meine liebe junge Dame, Waterman ist ausgesucht worden, Ihnen zu helfen – und den anderen, sollte ich vielleicht hinzufügen –, weil Li und die Auswahlkommission längst entschieden haben, daß er nicht zum Marsteam gehören wird. Haben Sie auch nur einen Moment lang geglaubt, die würden jemanden, der bereits für den Mars vorgesehen war, von der Liste streichen, nur damit er Ihnen hier hilft? Nein. Gewiß nicht. Watermans Schicksal war bereits entschieden. Sie hatten nichts damit zu tun.«
Joanna starrte ihn einen langen Augenblick wortlos an.
Schließlich fragte sie: »Sind Sie da sicher?«
Reed machte erneut eine Kopfbewegung zu dem stummen Computer und sagte: »Ich habe Zugang zu allen persönlichen Unterlagen, wissen Sie.«
Sie stieß einen tiefen, erleichterten Seufzer aus.
Reed betrachtete ihre Bluse. Eine heiße Enttäuschung brannte in seinen Eingeweiden. Hoffmann ist so unfähig, daß er ihr keine Angst macht. Und jetzt hat sie auch noch eine romantische Zuneigung zu dieser Rothaut aus dem Wilden Westen entwickelt. Ich hatte andere Pläne mit ihr. Ganz andere.
SOL 2
MORGEN
Jamie stand draußen im Freien und stellte wieder einmal fest, wie sehr ihn der Mars an die steinige, bergige Wüste des nordwestlichen New Mexico erinnerte. Im schräg einfallenden ersten Morgenlicht glühten die Felsen im Westen rot, genau wie zu Hause.
Aber der Himmel war rosa, nicht blau, und der von Felsbrocken übersäte Boden war völlig kahl. Kein Zweig und kein Blatt. Keine Eidechse, keine Spinne, nicht einmal ein Moospolster unterbrach die endlosen rostigen Rot- und Orangetöne der Wüste. Die Sonne war klein und schwach, zu weit entfernt, um Wärme zu spenden.
Grandiose Trostlosigkeit. Ein Astronaut hatte das vor Jahrzehnten über den Mond gesagt. Jamie fand, daß es zum Mars besser paßte. Die Welt, die er sah, war grandios; sie hatte eine fremdartige, saubere, unberührte Schönheit. Stolz und karg war der Mars mit seiner rauhen und völlig leeren Wüste, seinen steil und kahl aufragenden Felsen, öde, aber dennoch prächtig und schön in seiner kompromißlosen Strenge.
Jamie schaute zum Horizont und verspürte den Drang, so weit hinauszugehen, wie er konnte, immer weiterzugehen durch diese großartige Landschaft, die so fremdartig war und doch so viel Ähnlichkeit mit seiner Heimat hatte. Er schnaubte ärgerlich in sich hinein. Vergiß den Mystizismus, tadelte er sich. Du willst doch nicht der erste Mensch sein, der auf dem Mars stirbt.
Aber der Planet schien ein guter Ort zum Sterben zu sein –
eine tote Welt. Auf der Erde ist das Leben in jede Spalte und jeden Winkel gekrochen, den es finden konnte, von einem Pol zum anderen. Selbst in den trockenen Wüsten der Antarktis verbirgt sich Leben in den Felsen. Aber dieser Planet sieht tot aus. So tot wie der Mond. Wenn es hier überhaupt Leben gibt, dann hätte es das Aussehen dieses Planeten verändern müssen.
Jamie erinnerte sich an Geschichten über Kreaturen aus Silizium und grünhäutige Marsianer mit sechs Gliedmaßen. Urteile nicht ohne Beweise, warnte sein wissenschaftliches Gewissen. Hab Geduld, sagte eine Stimme tiefer in seinem Innern. Vielleicht sind die Regeln des Lebens auf dieser neuen Welt anders.
Er schüttelte den Kopf in seinem Helm, als wollte er der Debatte darin ein Ende bereiten. Der Anzug hatte inzwischen seinen etwas säuerlichen, nicht unangenehmen Körpergeruch angenommen. Wir haben unseren Anzügen unsere persönliche Note gegeben, dachte Jamie, während er eine weitere sperrige Kiste mit medizinischen Vorräten aus dem Lander zur Luftschleuse der Kuppel schleppte. Er balancierte sie auf seiner Schulter, als würde sie nicht mehr wiegen als ein Sack Maismehl.
»Schaut! Da sind sie!«
Connors’ Stimme war hoch vor Erregung. Jamie und der amerikanische Astronaut entluden gerade die letzten Vorräte aus dem Lander. Wosnesenski und Reed trugen sie von der Luftschleuse zu ihren Lagerplätzen in der Kuppel. Die beiden Frauen hatten die Aufgabe übernommen, die Vorräte auf den Inventarlisten im Computer abzuhaken. Soviel zu gleichen Rechten, dachte Jamie.
Er streckte sich und versuchte, Connors’ ausgestrecktem Arm mit dem Blick zu folgen. Das Oberteil seines Helms versperrte ihm einen Moment lang die Sicht, aber indem er den Kopf im Helm ein wenig schrägstellte, gelang es ihm, einen dünnen, flammenden Kondensstreifen über den rosafarbenen Himmel ziehen zu sehen.
»Absolut pünktlich«, sagte Connors, der das linke Handgelenk vors Visier gehoben hatte. »Sie werden genau plangemäß landen.«
Wie zur Bestätigung kam Wosnesenskis tiefe Stimme aus Jamies Kopfhörer. »Team zwei ist auf der Eintrittsbahn. Wir müssen mit dem Entladen fertig sein, wenn sie landen, also in… achtundfünfzig Minuten.«
Achtundfünfzig Minuten später standen alle sechs Mitglieder des ersten Teams zwischen ihrem eigenen Lander und der aufgeblasenen Kuppel und beobachteten den feurigen Abstieg des zweiten Landers.
Alles an der Marsexpedition wurde paarweise erledigt. Es gab zwei Landegruppen, zwei Ersatzteams, die im Orbit um den Planeten blieben, Duplikate von jedem Ausrüstungsgegenstand und jedem Milligramm der Vorräte.
Die Expedition war als Operation im ›Split-Sprint‹-Modus geplant, was (vom technischen Jargon gereinigt) bedeutete, daß die Expedition die schnellstmögliche Route zum Mars nahm und einen möglichst kurzen Aufenthalt auf dem Mars einplante – zwei Monate. Das war der ›Sprint‹-Modus. Die Wissenschaftler hatten mit Logik und Wirtschaftlichkeitserwägungen dagegen angekämpft; angesichts des Wunsches der Politiker nach schnellen und spektakulären Resultaten waren sie jedoch damit gescheitert.
Es stimmte zwar, daß der Sprint-Modus alles in allem teurer war als eine langsamere Annäherung, die ihnen einen längeren Aufenthalt auf dem Mars erlaubt hätte, aber die Politiker wußten, daß eine schnelle Mission weniger Jahre voller Gefeilsche und schmerzhafter Haushaltskrisen erfordern würde als eine längere.
Überdies wollte so gut wie jeder Politiker, der etwas mit der Marsmission zu tun hatte, Menschen auf dem Roten Planeten sehen, während er (oder falls es sich um ein weibliches Exemplar handelte: sie) noch im Amt war, um die Anerkennung dafür einzuheimsen.
Deshalb sprintete die Expedition zum Mars.
Der ›Split‹-Modus bedeutete einfach, daß die Expedition den interplanetaren Abgrund mit zwei Raumschiffen überwand.
Die Begründung lautete, wenn das eine von einer Katastrophe ereilt wurde, war das andere autark und konnte die Mission vollenden.
Jetzt standen Jamie und die anderen da und warteten darauf, daß die zweite Hälfte ihrer Expedition auf der staubigen Oberfläche aufsetzte.
»Da!« entfuhr es Wosnesenski, und sie drehten sich alle um und sahen einen Punkt am Himmel, der rasch auf sie zukam –
gestaltlos und formlos, noch zu hoch oben, um mehr zu sein als ein dunkler Fleck, der einem Stein gleich über den rosafarbenen Himmel sauste und einen hellen, flammenden Kondensstreifen hinter sich herzog wie eine Sternschnuppe.
Mein Gott, dachte Jamie, so haben wir gestern auch ausgesehen.
Dann strömte ein farbiger Strahl von der Spitze des Flecks weg und erblühte zu einem Trio großer weißer Fallschirme.