Der Lander wurde langsamer, bewegte sich durch seinen eigenen Schwung weiter, schwankte leicht und sank dem Boden entgegen. Die drei großen, ausgebreiteten Fallschirme über ihm sahen wie Engelsflügel oder wie Sonnensegel eines Wüstenstammes aus. Aber er kam immer noch zu schnell herunter, viel zu schnell. Jamie klopfte das Herz bis zum Hals; er schaute mehrere Minuten lang zu, wie der Lander rasch herabsank.
Er wurde immer größer, wuchs zu einer unansehnlichen Kombination von Untertasse und Teetasse heran: die kreisrunde Aerobremsschale, darüber der zylindrische Korpus des Landefahrzeugs. Jamie sah, daß die keramische Unterseite der Aeroschale von ihrem glutheißen Flug durch die obere Atmosphäre des Mars geschwärzt und gestreift war.
Mit einemmal lösten sich die Fallschirme von dem Lander und flogen davon, verlorene Engel, die über die marsianische Landschaft wanderten. Das Fahrzeug schien in der Luft zu taumeln. Grauweiße Dampfstöße kamen aus den Kontrolldüsen, als der Lander schwankte und sich aufrichtete. Einen Moment lang stand er in der Luft.
Die Bremsraketen feuerten kurze, sporadische Schübe ab und wehten Kies und wirbelnde Staubteufel am Boden auf, während die überdimensionale Untertasse mit der Teetasse darauf ganz, ganz langsam herabsank, gepolstert vom heißen Abgasstrahl der Raketen. Durch seinen Helm konnte Jamie das periodische Kreischen der Bremsraketen hören. Es klang wie das schrille Stakkato eines ängstlichen Vogels.
Der Lander kam über hundert Meter entfernt herunter, doch trotzdem prasselte ein kleiner Sandsturm auf Jamies Anzug ein. Er widerstand dem auf der Erde ausgeprägten Impuls, sich in den Wind zu lehnen; in dieser dünnen Atmosphäre gab es keinen richtigen Druck, der auf ihn einwirkte.
Schließlich verstummte der Lärm, der Sandsturm legte sich, und die Segmente der Aeroschale fielen wie die welken Blütenblätter einer riesigen Metallblume zu Boden.
»Das war’s! Wir sind unten!« hörte Jamie in seinem Kopfhörer.
Es hatte verblüffend wenige Meinungsverschiedenheiten über die Sprache gegeben, die auf dem Mars gesprochen werden sollte. Die Wissenschaftler hatten schon seit über einem halben Jahrhundert weltweit eine gemeinsame Sprache, und das war Englisch. Die Flugzeugpiloten und die Bodenkontrolleure ebenso. Ein paar Politiker hatten eine Art Streit darüber angefangen, mehr ihren eigenen nationalen Egos zuliebe als aus irgendeinem ernsthaften Grund. Die Franzosen hatten besondere Schwierigkeiten gemacht. Doch am Ende mußten sie sich der Tatsache stellen, daß die einzige Sprache, die alle ihre zukünftigen Forscher sprachen, Englisch war.
Trotzdem unterhielt sich Wosnesenski über den Sprechfunk in seinem Anzug auf Russisch mit dem Piloten des zweiten Landers, Aleksander Mironow, während Ilona Malater und Tony Reed die handgroßen Videokameras auf die Stative montierten.
Joanna Brumado wandte sich in ihrem leuchtend orangefarbenen Anzug an Jamie. »Ich nehme an, wir sind nur die Speerträger.«
»Waterman!« ertönte Wosnesenskis Stimme in Jamies Kopfhörer. »Nehmen Sie den Fotoapparat und machen Sie Aufnahmen von der Struktur der Aerobremse.«
»Eine Speerträgerin«, sagte Jamie zu Joanna.
»Brumado!« rief der Russe. »Überwachen Sie die Gasemissionen der Landefähre.«
Er hörte die Brasilianerin laut lachen. »Keine Speerträger.«
Nach etwas mehr als einer Viertelstunde schlug der Lukendeckel des Landefahrzeugs auf, und die dünne Metalleiter glitt zu dem roten Staub herab. Eine Gestalt in einem strahlend roten Druckanzug erschien in der Luke. Das muß der andere Russe sein, dachte Jamie, während er Fotos für die offizielle Geschichte der Expedition schoß.
Sechs Gestalten in hartschaligen Anzügen stiegen langsam die Leiter herab, eine nach der anderen, und versammelten sich mit ihrem Lander im Hintergrund vor den Videokameras.
Sie sprachen ebenfalls feierliche Worte über den Triumph des menschlichen Strebens und rühmten die Intelligenz und den Tatendrang des Menschen.
Das zweite Team bestand aus fünf Männern und einer Frau, wie Jamie wußte: einem Russen, einem Amerikaner, einem japanischen Meteorologen, einem zweiten Geologen aus Indien, einem ägyptischen Geophysiker und einer französischen Geochemikerin.
Die Politiker hatten alles in ihrer Kraft stehende getan, so viele Nationen wie möglich zufriedenzustellen – und so viele wie möglich zu bewegen, das eine Viertelbillion Dollar teure Marsprojekt finanziell zu unterstützen. Man mußte ihnen jedoch hoch anrechnen, daß dort, wo sie Nationalstolz gegen wissenschaftliche Erfordernisse hatten abwägen müssen, der Nationalstolz nicht jede Runde gewonnen hatte. Doch wenn eine israelische Biochemikerin für den Flug zum Mars ausgewählt wurde, dann führte kein Weg daran vorbei, daß auch einen Anhänger des Islam mitgeschickt werden mußte. Es war zwingend notwendig, daß sowohl Japan als auch Frankreich vertreten waren. Und es mußten natürlich genauso viele Russen wie Amerikaner teilnehmen.
Daß Jamie in letzter Minute für Pater DiNardo auf die Liste gesetzt worden war, hatte das russisch-amerikanische Gleichgewicht gestört, und obwohl man dagegen nichts machen konnte, war man weder in Moskau noch – seltsamerweise – in Washington besonders glücklich darüber gewesen.
Das erste Team half dem zweiten Team beim Entladen des Abstiegs- und Aufstiegsfahrzeugs. Weitere Ausrüstung würde später am Tag mit automatischen, unbemannten Einweg-Landern vom Raumschiff im Orbit eintreffen. Wosnesenski hatte die Leitung des gesamten Bodenteams, und Pete Connors war angeblich sein Stellvertreter. Aber Jamie hörte viele russische Worte in seinem Kopfhörer; die beiden Kosmonauten unterhielten sich bereits auf eine Weise miteinander, die alle anderen ausschloß.
Jamie war überrascht, als Wosnesenski ihm plötzlich auf die Schulter seines Anzugs klopfte.
»Kommen Sie ins Kommunikationszentrum«, sagte der Russe. »Der Expeditionskommandant möchte mit Ihnen sprechen.«
Wortlos hob Jamie die Kiste mit chemischen Analysegeräten hoch, die er bereits hergebracht hatte, und folgte Wosnesenski in die Luftschleuse. Nachdem die Luft ausgetauscht worden war und sie den roten Staub von ihren Stiefeln gesaugt hatten, betraten sie die Kuppel. Jamie stellte die Kiste direkt hinter der Luke ab und schob dann bereits unbewußt sein Helmvisier hoch, als er neben dem Russen her zur Kommunikationskonsole ging.
Seine Ohren knackten wieder. Die Luft im Innern der Kuppel war eine normale erdähnliche Mischung aus Sauerstoff und Stickstoff, auf normalen erdähnlichen Druck gebracht und auf eine angenehme Temperatur erwärmt. In den Raumanzügen herrschte ein fast normaler erdähnlicher Atmosphärendruck.
Fast, aber nicht ganz. Der Wechsel vom Anzug zur ›regulären‹
Luft macht sich in Jamies Innenohr bemerkbar. Es war eines dieser kleinen Wehwehchen, über die kein Marsforscher beim Training auch nur ein Sterbenswörtlichen hätte verlauten lassen, aus Angst, aus dem Team gestrichen zu werden. Hier auf dem Mars jedoch war es bereits lästig. Und dies war erst der zweite Tag.
Dr. Li Chengdu, der Expeditionskommandant, war äußerst ungehalten über Jamie Waterman. Das einzige sichtbare Zeichen seines Ärgers war das leichte Pulsieren einer Ader an der linken Schläfe. Ansonsten war seine Gesicht eine Maske der Gelassenheit. Der olivbraune Overall, den er trug, entsprach nicht ganz der Norm: Dr. Li bevorzugte einen kleinen Stehkragen anstelle des offenen, den alle anderen trugen. Jamie fragte sich insgeheim, ob das symbolisch sein sollte.
Verdutzt nahm Jaime vor dem großen Bildschirm am Kommunikationspult Platz. Die sechs anderen Monitore drumherum zeigten Bilder von den Entladearbeiten, die draußen vonstatten gingen. Wosnesenski stand hinter Jamie wie ein Polizist, der einen zum Verhör gebrachten Gefangenen bewacht.
»Doktor Li«, sagte Jamie. Er trug immer noch seinen blauen Anzug und den Helm.