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»Doktor Waterman.«

»Sie wollten mich sprechen?«

Li holte schweigend Luft. Seine Nasenflügel blähten sich, als wäre ihm das alles zuwider. »Ich habe gerade eine höchst unerfreuliche Botschaft aus Kaliningrad erhalten, die von Houston weitergeleitet wurde.«

Jamie bemühte sich, eine genauso steife und vor allem ausdruckslose Miene zu machen wie der Expeditionskommandant.

»Ihre amerikanische Flugkontrolle ist ziemlich aufgebracht darüber, daß Sie nicht die Worte gesprochen haben, die man Ihnen für Ihre erste Erklärung auf dem Boden des Mars mitgegeben hatte.«

»Ja, das kann ich mir denken.« Natürlich würden sie aufgebracht sein. Die Anglos in Washington sind immer aufgebracht, wenn ein roter Mann sich nicht an ihre Anweisungen hält.

»Warum haben Sie das gesagt, was Sie gesagt haben? Und was bedeutet es? Anscheinend hat es in den Medien der Vereinigten Staaten eine Sensation ausgelöst.«

Mit einem leichten Kopfschütteln erwiderte Jamie: »Ich hatte nicht die Absicht, eine Sensation auszulösen. Ich wußte nicht, daß ich das sagen würde, bis ich mich sprechen hörte. Die Worte… sie sind mir einfach so über die Lippen gekommen.«

»Was bedeuten sie?«

»Es ist ein alter Navajo-Gruß. Wie ›Aloha‹ bei den Hawaiianern oder das ›Ciao‹ der Italiener. Wortwörtlich bedeutet es so etwas wie ›Es ist gut‹.«

Lis steife Schultern entspannten sich sichtlich. Die Ader pulsierte etwas weniger heftig. »In Ihrer Regierung ist man sehr verärgert über Sie.«

Jamie versuchte, im Anzug die Achseln zu zucken, und merkte, daß es nicht ging. »Was können sie schon machen?«

sagte er. »Mich nach Hause schicken?«

»Sie können mich anweisen, Sie vom Bodenteam abzuziehen und heraufzuholen!« fuhr Li ihn an. »Sie können darauf bestehen, daß ich Doktor O’Hara zur Oberfläche hinunterschicke und Sie während der restlichen Mission in der Umlaufbahn behalte!«

Jamie wurde es flau im Magen. »Das würden Sie doch nicht tun!« Es war eher eine Frage als eine Feststellung.

»Sie haben es mir nicht befohlen. Noch nicht.«

Gott sei Dank, seufzte Jamie im stillen.

»Sie wünschen jedoch eine Klarstellung Ihrer Worte: eine schriftliche Erklärung von Ihnen, was sie für Sie bedeuten und warum Sie diese Worte gesagt haben und nicht jene, die man Ihnen aufgetragen hatte.«

Auf einmal kam es Jamie grotesk vor. Da saß er in einem Raumanzug auf einer Welt, die hundert Millionen Kilometer von der Erde entfernt war, und bekam den Befehl, sich schriftlich für drei Worte zu entschuldigen, die er unüberlegt hervorgestoßen hatte. Oder er würde wie ein renitenter Schuljunge bestraft werden.

»Werden Sie eine solche Erklärung schreiben?« drängte Li.

»Und wenn ich es nicht tue…?«

»Dann wird man darauf bestehen, daß Sie vom Bodenteam abgezogen werden, fürchte ich. Bedenken Sie bitte, daß Ihre Berufung ins Landeteam in letzter Minute einige Nervosität in Washington und auch anderswo ausgelöst hat. Bitte gefährden Sie Ihre Position nicht noch zusätzlich.«

Jamie erinnerte sich an das hektische Wochenende mit eiligen Telefonkonferenzen und spontanen Besuchen bei seinen Angehörigen. Und an Edith und ihren Abschied voneinander.

Der Expeditionskommandant schien sich aufzurichten, so daß er noch größer wirkte, und eine ruhigere, königlichere Haltung einzunehmen. »Falls Ihnen etwas an meinem Rat liegt: Setzen Sie ein kurzes Schreiben auf, in dem Sie erklären, Sie seien von Gefühlen überwältigt worden, als Sie den Boden des Mars betreten haben, und in die Sprache Ihrer Vorfahren verfallen. Niemand kann Ihnen das zum Vorwurf machen.«

»Es ist sogar die Wahrheit«, sagte Jamie.

Der Chinese gestattete sich ein väterliches Lächeln. »Verstehen Sie? Eine sanfte Antwort wendet den Zorn ab.«

Jamie nickte. »Ich verstehe. Danke.«

DOSSIER

JAMES FOX WATERMAN

Jamie war neun Jahre alt, als er das erste Mal nach New Mexico geschickt wurde, um den Sommer mit seinem Großvater Al zu verbringen. Seiner Mutter gefiel die Idee nicht, aber sie und ihr Mann hatten einen Sommer im Ausland vor sich – Vorträge und Seminare, die die beiden Professoren über den Pazifik nach Australien, Neuseeland, Singapur und Hongkong führen würden. Sie waren nicht sonderlich erpicht darauf, ihren neunjährigen Sohn mitzuschleppen, und hatten auch keineswegs die Absicht, auf diese kostenlose sogenannte Dienstreise zu verzichten.

So kehrte Jamie zum ersten Mal, seit er in den Kindergarten gekommen war, nach Santa Fe zurück. Er lernte Fischen und Jagen, obwohl er seine Zeit größtenteils in Als Laden auf der Plaza in Santa Fe verbrachte, und gewann seinen Großvater Al lieb. Al war ein guter Großvater – aber ein noch besserer Geschäftsmann. Den ganzen Sommer über scharwenzelten Anglo-Damen gurrend um den ›kleinen Indianerjungen‹ herum.

In der allerletzten Woche, als Jamie bereits mit einer Jammermiene herumlief, weil er nach Berkeley zurück mußte, nahm Al ihn zu einem der Navajo-Pueblos in den Bergen mit, wo er die Töpferwaren und Teppiche kaufte, mit denen er den Anglo-Touristen das Geld aus der Tasche zog.

An jenem Tag erledigte Al seine Geschäfte größtenteils im Handelsposten, einer Kombination aus Bar und Gemischtwarenladen mit einem nackten, knarrenden Dielenboden, abgenutzten alten Holztheken, verzogenen, halbleeren Regalen und einem großen Deckenventilator, der sich viel zu langsam bewegte. Ein halbes Dutzend ältere Männer saßen stumm und praktisch reglos unter ihren Hüten mit den breiten, herabhängenden Krempen am Tresen, während Al geduldig und unaufhörlich mit dem Häuptling des Pueblos verhandelte. Jamie kamen die alten Männer am Tresen so staubig und von den Spuren der Zeit gezeichnet vor wie der Raum selbst.

Gelangweilt vom endlosen, leisen Gefeilsche seines Großvaters in einer Sprache, die er nicht verstand, ging Jamie hinaus und setzte sich auf die durchhängenden Holzstufen. Die Spätnachmittagssonne war so heiß wie geschmolzene Lava und färbte das ganze Land kupferrot.

Eine dürre graue Katze schlich lautlos vor seinen Füßen vorbei. Im Schatten einer Pyramidenpappel auf der anderen Stra

ßenseite lagen ein paar räudige Hunde mit tückischen Augen hechelnd im Staub. Jamie konnte ihre Rippen zählen.

Auf der schattigen Veranda vor einem Adobe-Haus gegen

über, das dringend ausgebessert werden mußte, spielte ein kleines Mädchen von vielleicht sechs oder sieben Jahren mit einem Welpen, einem fröhlichen, zappelnden Fellbündel. Jamie erwog, zu ihr hinüberzugehen, aber er beherrschte die Navajo-Sprache nicht. Das Mädchen hätschelte den kleinen Hund, streichelte ihn, redete in ihrer Sprache leise auf ihn ein.

Sie setzte den Welpen kurz ab und hob ihn dann am Schwanz hoch. Der Hund jaulte und schnappte nach ihr. Sie ließ ihn los und sprang auf. Dann verfiel sie unversehens in Englisch und rief: »Du böser Junge! Du Böser! Immer willst du Ärger machen, andauernd suchst du Streit! Ich schicke dich zum Direktor! Raus aus diesem Klassenzimmer! Geh zum Direktor! Das sage ich deiner Mutter!«

Obwohl er erst neun war, erkannte Jamie sofort, daß das Mädchen einen weißen Lehrer nachahmte.

Ihre Mutter rief sie aus der kühlen Dunkelheit des Hauses, durch die offene Tür, und sprach streng in Navajo mit ihr. Jamie merkte, daß sein Großvater neben ihm stand und über die Szene lachte.

Jamie kam auf die Beine und fragte: »Was hat sie gesagt, Al?«

»Oh, sie hat ihrer Tochter nur erklärt, daß sie dem Hund nicht weh tun soll.« Er lachte. »Dann hat sie ihr gesagt, sie soll sich vor einem weißen Mann nicht über ihren Lehrer lustig machen.«

»Einem weißen Mann?«

»Du, mein Sohn!«

»Aber ich bin kein weißer Mann.«