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Um zwei Uhr morgens kam der Anruf.

Das Läuten des Telefons riß Jamie sofort aus dem Schlaf, aber etliche verschwommene Augenblicke lang wußte er nicht, wo er sich befand. Das Telefon klingelte erneut und mit Nachdruck. Er erkannte, daß Edith neben ihm lag. Sie bewegte sich und murmelte etwas in ihr Kissen.

Während Jamies Augen sich auf die Leuchtziffern der Digitaluhr auf der Kommode einstellten, langte er über ihren nackten Körper hinweg und hob den Hörer ab.

»Hallo.«

»James Waterman?«

»Wer will das wissen?«

»Na, hören Sie, Jamie, hier ist Antony Reed, in Star City. Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich gebraucht habe, um Sie ausfindig zu machen?«

»Herrgott, hier ist es zwei Uhr morgens. Was wollen Sie, verdammt noch mal?«

»DiNardo ist im Krankenhaus. Eine Gallenblasenkolik. Er muß operiert werden.«

Jamie setzte sich im Bett kerzengerade auf.

»Was ist los?« fragte Edith. Sie war jetzt wach.

»Haben Sie mich verstanden?« fragte Reed. Zum ersten Mal hörte Jamie dem Engländer an, daß er aufgeregt war.

»Ja.«

»In den oberen Etagen ist die Hölle los. Brumado kommt aus den Staaten rübergeflogen, wie ich höre. Er will sich mit der Auswahlkommission und mit Doktor Li treffen.«

»Hoffmann ist also zur Nummer eins aufgerückt, und ich werde sein Ersatzmann?« fragte Jamie, überrascht von dem Zittern in seiner Stimme.

»Im Moment steht noch überhaupt nichts fest«, antwortete Reed. »Diese Fragen werden heute nachmittag oder am Sonntag erneut überprüft.«

»Was ist?« Edith war jetzt ebenfalls aufgeregt. »Haben sie ihre Meinung geändert?«

»Was immer Sie tun«, sagte Reed, »bleiben Sie in engem Kontakt mit Houston. Kann sein, daß Sie Montag hier rüberfliegen müssen. Oder vielleicht direkt zur Raumstation hinauf.

Wir sollten ab morgen nach oben verfrachtet werden, aber jetzt ist alles fürs erste gestoppt.«

»Okay«, sagte Jamie mit schwankender Stimme. »Danke, daß Sie mir Bescheid gesagt haben.«

»Keine Ursache, alter Junge. Die meisten von uns hätten viel lieben Sie an Bord als diesen Musterknaben Hoffmann.«

»Danke.«

»Viel Glück!« Ein Klicken, und die Leitung war tot.

»Was ist?« fragte Edith. Sie saß neben ihm.

Jamie merkte, daß seine Hände zitterten. »Pater DiNardo ist krank geworden. Er muß operiert werden. Sieht so aus, als würde ich doch noch mitfliegen.«

»Heiliger Strohsack!« Edith sprang aus dem Bett und begann, in ihrer Schultertasche zu wühlen, die auf dem Stuhl neben den zugezogenen Vorhängen lag. Jamie betrachtete ihren schlanken, nackten Körper, als sie sich über die Tasche beugte und leise vor sich hinmurmelte.

»Ha! Ich hab ihn!«

Sie sprang mit einem handtellergroßen Kassettenrecorder in der Hand wieder ins Bett.

»Was, zum Teufel…?« fragte Jamie verblüfft.

»Das ist ein Interview am Ort des Geschehens mit dem Geologen James Fox Waterman, der, wie er soeben erfahren hat, in das Team berufen worden ist, das in zwei Monaten zum Planeten Mars fliegen wird.«

Er lachte, aber Edith meinte es anscheinend vollkommen ernst.

»Doktor Waterman, was empfinden Sie dabei, daß Sie zur ersten bemannten Expedition zum Planeten Mars gehören sollen?«

»Es macht mich geil«, platzte Jamie heraus. »Total geil.«

Er nahm ihr den Kassettenrecorder aus der Hand und legte ihn auf den Nachttisch neben ihr. Das Band war längst zu Ende, als sie wieder voneinander abließen.

2

Als er vor dem Haus seiner Eltern aus dem Taxi stieg, fiel Jamie zum ersten Mal auf, wie normal es aussah. Arm, aber vornehm – die Fassade der Universitätsprofessoren, selbst jener, die altes Geld geerbt hatten.

Ein NASA-Astronaut, der für ein schnelles Wochenende in die Bay Area heimflog, hatte ihn auf dem Rücksitz eines T-18-Düsenjägers mitgenommen. Als Jamie nun den Taxifahrer bezahlte und ausstieg, kam er sich beinahe so vor, als wäre er in eine Filmkulisse geraten. Das typische Amerika der Mittelschicht. Eine stille Vorortstraße. Schmucklose kleine Bungalows. Kinder auf Fahrrädern. Hin und her wedelnde Rasensprenger.

Als er mit seiner Nylon-Reisetasche den Weg zur Haustür hinauf ging, kam er sich ein bißchen unwirklich vor. Wie hätte Norman Rockwell diese Szene gemalt? Hallo, Mom, bin nur kurz für ein paar Stunden vorbeigekommen, um euch zu sagen, daß ich zum Mars fliege.

Bevor er zur Haustür gelangte, wartete seine Mutter dort bereits auf ihn, ein Lächeln auf den Lippen und Tränen in den Augen.

Lucille Monroe Waterman war eine kleine Frau, keck und hübsch. Sie entstammte einer alten, begüterten Familie aus New England, deren Ursprünge nach eigenen Angaben bis zur Mayflower zurückreichten. Als ihre Eltern ihr zum ersten Mal erlaubt hatten, sich westlich über den Hudson River hinauszuwagen, hatte sie den Sommer auf einer Ferienranch in den Bergen des nördlichen New Mexico verbracht. Dort hatte sie Jerome Waterman kennengelernt, einen jungen Navajo, der alles daransetzte, Lehrer für Geschichte zu werden. »Für die wahre Geschichte«, hatte Jerry Waterman ihr erklärt, »die wahren Tatsachen über die amerikanischen Ureinwohner und das, was die europäischen Eindringlinge ihnen angetan haben.«

Sie verliebten sich hoffnungslos und leidenschaftlich ineinander. So sehr, daß Lucille, die bisher kaum über einen Beruf nachgedacht hatte, ebenfalls ins akademische Leben eintrat. So sehr, daß die beiden trotz der offenkundigen Bedenken von Lucilles Eltern heirateten.

Jerry Waterman schrieb seine Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, und sie wurde schließlich zum maßgeblichen Text auf den entsprechenden Literaturlisten von Universitäten im ganzen Land. Erfolg, Ehe, das Ruhepolster eines verläßlichen Einkommens, das isolierte Leben der akademischen Welt

– all das bewirkte eine Art Reifeprozeß, und schließlich war er derart gesetzt, daß Lucilles Eltern ihn beinahe als Gatten ihrer Tochter akzeptieren konnten. Und Jerry Waterman stellte fest, daß er akzeptiert werden wollte. Es war wichtig für Lucille. Es wurde auch wichtig für ihn.

Lucille machte ihren Doktor in englischer Literatur, und dann bekamen sie ein Baby: James Fox Waterman. Das ›Fox‹

war ein alter Zuname aus Lucilles Clan mütterlicherseits. Obwohl er es nicht wissen konnte, war Jamie der Enkel, der die wahre Aussöhnung der New England-Sippe mit ihrem Navajo-Schwiegersohn zustandebrachte.

Lucille klammerte sich im Eingang ihres Hauses in Berkeley an Jamie, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte. Dann erschien sein Vater und lächelte gelassen hinter seiner Pfeife hervor.

Niemand hätte in Professor Jerome Waterman den hitzigen jungen Verfechter der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner wiedererkannt. Sein Haar war eisengrau und wurde so schütter, daß er es nach vorn kämmte, um seine hohe Stirn zu bedecken. Sein Gesicht zeigte, wie das von Jamie vielleicht in dreißig Jahren aussehen würde: fleischig und aufgedunsen von einem geruhsamen Leben. Brille mit dunklem Rahmen.

Sporthemd mit offenem Kragen, das Herstellerlogo diskret auf die Brust gestickt. In Jerry Watermans dunklen Augen brannte kein Feuer mehr. Es war lange her, daß er in einen härteren Kampf verwickelt gewesen war als in einem Streit mit einem Dekan über die Größe der Seminare. Er hatte die Kämpfe seiner Jugend gewonnen und war seinen ehemaligen Feinden mit den Jahren ähnlicher geworden, als er sich selbst gegenüber zugeben konnte.

»Ich kann nur bis morgen bleiben«, waren Jamies erste Worte an seine Eltern.

»Am Telefon hast du gesagt, sie würden dich zum Mars schicken?« Seine Mutter wirkte eher ängstlich als stolz.

»Ich glaube ja. Es sieht so aus.«

»Wann weißt du es genau?« fragte sein Vater.