»Ich wußte, daß du zum Mars fliegen würdest«, sagte Al.
Seine Stimme brach beinahe. »Ich habe nie auch nur im geringsten daran gezweifelt.«
»Ich werde mich an das hier erinnern«, sagte Jamie. »Ich werde es in meinem Herzen bewahren.«
Al griff in die Tasche seiner Jeansjacke. »Hier«, sagte er.
»Eine Gedächtnisstütze.«
Jamie sah, daß sein Großvater ihm ein behauenes, pechschwarzes Stück Obsidian in der Totemform eines zusammengekauerten Bären hinhielt. Eine winzige Pfeilspitze aus Türkis war mit einem Lederband auf seinen Rücken gebunden; unter dem Band steckte eine winzige weiße Feder.
Ein Fetisch, erkannte Jamie. Ein schützendes Stück Navajo-Zauber.
»Das ist eine Adlerfeder«, sagte Al, außerstande, seinen Ladenbesitzer stolz zu unterdrücken.
Jamie nahm den Fetisch. Er war klein in seiner Hand, aber schwer, massiv und stark.
»Ich werde ihn immer bei mir tragen, Großvater.«
Al grinste beinahe verlegen. »Geh in Schönheit, mein Sohn.«
4
Jamie kam noch Sonntag nacht nach Houston in seine Wohnung zurück und kroch emotional erschöpft ins Bett. Während er schlief, wurde in Star City, mehr als zehntausend Kilometer entfernt, über seine Zukunft entschieden.
Alberto Brumado döste in der Limousine, die ihn bei seiner Ankunft in Moskau vom Flugzeug abgeholt hatte. Er saß allein auf dem geräumigen Rücksitz, litt nach seinem Überschallflug aus Washington unter der Zeitumstellung und achtete nicht auf die Reihen hoher Wohnblocks und die tiefhängenden grauen Wolken, die sich ostwärts zur eigentlichen Steppenlandschaft Rußlands erstreckten. Über eine Stunde lang raste der Wagen auf der breiten, betonierten Landstraße dahin; der Verkehr wurde immer dünner, bis nur noch wenig mehr als hin und wieder ein schwerfälliger Sattelschlepper unterwegs war, dessen Dieselmotor rußige Auspuffwolken in die Luft hustete.
Sie passierten Kaliningrad, fuhren an Wäldern und Seen vorbei und über einen Bahnübergang, Richtung Star City.
Der wahre Name des Ortes lautet Swjostny Gorodok, wörtlich ›Sternenstadt‹. Aber bei dem ersten gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Raumfahrtunternehmen, der Apollo-Sojus-Mission von 1975, ist durch eine kleine Fehlinterpretation eines NASA-Übersetzers Star City daraus geworden, und so wird es von den westlichen Medien seither genannt.
Früher einmal war es eine kleine Stadt gewesen, nicht mehr als eine Handvoll Wohnblocks und ein Dutzend große Betonbauten, die das Trainingszentrum der Kosmonauten beherbergten; man hatte sie absichtlich in die kahle Einöde zwischen einem dichten Kiefernwald und einer Ansammlung kleiner Seen gestellt.
Als Alberto Brumados Wagen nun an dem Wachposten in der Umzäunung vorbeifuhr, stellte er fest, daß sie zu einer größeren Stadt herangewachsen war. Wissenschaftler und Astronauten aus aller Welt trainierten hier für den Mars. Die Medien der Welt konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf diesen Ort. Um die klaren blauen Seen herum war eine richtige Stadt mit Häusern für die im Trainingszentrum tätigen Arbeiter sowie mit Läden, Märkten und Unterhaltungskomplexen entstanden. Nah beim Haupttor des Trainingszentrums selbst stand das Raumfahrtmuseum, ein anmutig geschwungenes Betongebilde, das den Geist des Fluges einfing.
Brumado hatte das Geheimnis der Reisenden schon vor Jahren kennengelernt: Schlaf, wann immer du kannst. Als die Limousine nun vor dem großen Verwaltungsgebäude des Trainingszentrums hielt, erwachte er aus seinem Nickerchen, bereit, auszusteigen und sich seinen Aufgaben zu stellen, wach, wenn auch nicht richtig erfrischt.
Dr. Li Chengdu kam mit seinen langen Beinen beinahe die Vortreppe des Gebäudes herabgesprungen, um Brumado zu begrüßen und zu dem Büro zu führen, das die Russen ihm zur Verfügung gestellt hatten. Dr. Li trug einen teuer aussehenden kastanienbraunen und schiefergrauen Trainingsanzug. Der senkrechte weiße Streifen an den Beinen machte ihn noch grö
ßer und dünner, als er ohnehin schon war. Sein Gesicht wirkte gestresst, gräulich, ungesund. Vielleicht liegt es an diesem kastanienbraunen Oberteil, dachte Brumado. Es ist nicht gut für seine Hautfarbe. Er selbst trug noch den dunkelblauen Geschäftsanzug aus Washington. Die Krawatte hatte er schon vor Stunden abgenommen und in die Tasche seines Jacketts gestopft. Das Hemd war schlaff und zerknittert von der langen Reise.
Das Büro, in das Li ihn führte, war geräumig und mit einem großen, polierten Konferenztisch ausgestattet, sah Brumado.
Gut. Und es hatte eine eigene Toilette. Noch besser. Die zweite Regel des Gewohnheitsreisenden: Geh nie an einer Toilette vorbei, ohne sie zu benutzen.
Drei Minuten später hatte Brumado seine Blase entleert, sich das Gesicht gewaschen und die Haare gekämmt. Er zog sich einen Stuhl am Konferenztisch heraus, ohne den massiven Schreibtisch und den hochlehnigen Drehsessel dahinter zu beachten. Brumado war der Ansicht, daß er hier war, um bei der Lösung eines plötzlich aufgetretenen Problems zu helfen, und nicht, um andere mit den Insignien der Macht zu beeindrucken.
Außerdem habe ich hier keine echte Macht, sagte er sich, keine Autorität über diese Männer und Frauen. Meine Stärke liegt in moralischer Überzeugungsarbeit, das ist alles.
Dr. Li marschierte in dem Büro auf und ab, von den mit Vorhängen versehenen Fenstern zum Kopfende des Konferenztisches und wieder zurück. Brumado hatte ihn noch nie so nervös erlebt.
»Bitte nehmen Sie hier neben mir Platz«, sagte Brumado milde. »Ich bekomme ein steifes Genick davon, wenn ich immer zu Ihnen aufschauen muß.«
Lis dünnes, asketisches Gesicht nahm für einen Moment einen Ausdruck der Verblüffung an, dann schaute er reumütig drein. Er setzte sich auf den Stuhl neben Brumado.
»Sie scheinen sehr aufgeregt zu sein«, sagte Brumado. »Was ist los?«
Li trommelte mit seinen langen Fingern auf den Tisch, bevor er antwortete. »Es sieht so aus, als hätten wir es mit einer waschechten Meuterei zu tun. Und Ihre Tochter, Sir, ist offenbar die Anführerin.«
»Joanna?«
»Als sich herausstellte, daß DiNardo nicht mitfliegen kann, forderten Ihre Tochter und andere, daß Professor Hoffmann ebenfalls ausgewechselt werden sollte.«
Brumado war verwirrt. So etwas würde Joanna niemals tun.
Niemals!
»Ich verstehe nicht«, sagte er.
»Ihre Tochter und mehrere andere Wissenschaftler hier haben sich geweigert, an der Mission teilzunehmen, wenn Hoffmann zum Team gehört. Es ist schlicht und einfach Meuterei.«
»Meuterei«, sagte Brumado ungläubig. Er war wie betäubt und hatte das Gefühl, begriffsstutzig zu sein, als könnte sein Gehirn die Bedeutung von Lis Worten nicht erfassen.
»Wir können die endgültige Auswahl der Teilnehmer nicht bekanntgeben und auch nicht damit anfangen, den wissenschaftlichen Stab zur Montagestation im Orbit hinaufzubringen, wenn sie die Mission boykottieren.« Lis Stimme war hoch und angespannt; sie schnappte beinahe über.
Brumado hatte Li noch nie so erlebt; er schien der Panik nahe zu sein.
»Was können wir tun?« fragte Li und erhob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. »Wir können Professor Hoffmann doch nicht erklären, daß er aus dem Team fliegt, weil eine Clique seiner Kollegen ihn nicht mag! Was können wir tun?«
Brumado holte tief Luft und versuchte unbewußt, Li zu beruhigen, indem er sich selbst beruhigte. »Ich glaube, ich sollte zunächst einmal mit meiner Tochter sprechen.«
»Ja«, sagte Li. »Natürlich.«
Er sprang mit seinen ganzen zwei Metern Länge von seinem Stuhl auf und sprintete beinahe zu dem Schreibtisch, wo das Telefon stand. Brumado schälte sich aus seinem Jackett und warf es auf einen anderen Stuhl. Er rollte sich gerade die Hemdsärmel hoch, als Joanna das Büro betrat. Sie trug ebenfalls einen weichen, bequemen Trainingsanzug, aber in Buttergelb und gedämpftem Orange. Brumado fragte sich müßig, was die Russen von diesem amerikanischen Modefimmel hielten.