Steiner sagte rasch: »In Lager drüben auf der Erde.«
»Suchen wir jetzt lieber Manfred«, sagte Miss Milch. »Einverstanden? Ich glaube, er weiß, daß Sie immer an diesem Tag kommen; er hat am Fenster gestanden, aber das tut er natürlich oft.«
Plötzlich platzte er zu seinem eigenen Erstaunen mit erstickender Stimme heraus: »Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht sogar recht haben. Was hat es denn für einen Sinn, ein Kind zu haben, das nicht unter Menschen leben und mit ihnen sprechen kann?«
Miss Milch sah ihn kurz an, sagte aber nichts.
»Er wird niemals in der Lage sein, einen Beruf auszuüben«, sagte Steiner. »Er wird der Gesellschaft immer zur Last fallen, so wie jetzt. Stimmt das nicht?«
»Autistische Kinder überraschen uns stets von neuem«, sagte Miss Milch. »Durch ihr Wesen und wie sie dazu gekommen sind, durch ihre Neigung, sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund geistig zu entfalten, nachdem sie jahrelang nicht die geringste Reaktion gezeigt haben.«
»Ich glaube, ich kann nicht guten Gewissens gegen diesen Gesetzentwurf sein«, sagte Steiner. »Wenn ich es mir näher überlege. Jetzt, wo der erste Schock vorbei ist. Es wäre richtig. Ich finde, es ist richtig.« Seine Stimme bebte.
»Tja«, sagte Miss Milch, »ich bin froh, daß Sie das nicht Anne Esterhazy gesagt haben, sie hätte Sie nie gehen lassen; sie wäre hinter Ihnen her gewesen und hätte auf Sie eingeredet, bis Sie bekehrt gewesen wären.« Sie hielt die Tür zum großen Spielzimmer auf. »Manfred ist da drüben in der Ecke.«
Als er seinen Sohn aus der Entfernung sah, dachte Steiner: Man sollte es nicht meinen, wenn man ihn so sieht. Der große, wohlgeformte Kopf, das Kraushaar, die edlen Züge ... Der Junge war vornübergebeugt, ganz von einem Gegenstand eingenommen, den er hielt. Ein wirklich gut aussehender Junge, mit Augen, die manchmal spöttisch aufblitzten, manchmal fröhlich und aufgeregt glänzten ... und diese unglaubliche Harmonie der Bewegungen. Wie er umherschnellte, auf Zehenspitzen, als tanzte er nach einer unhörbaren Musik, nach einer Melodie aus seinem eigenen Innern, deren Rhythmus ihn völlig in ihren Bann schlug.
Wie prosaisch sind wir, verglichen mit ihm, dachte Steiner. Bleiern. Wie die Schnecken kriechen wir dahin, während er tanzt und hüpft, als hätte die Schwerkraft auf ihn nicht die gleiche Wirkung wie auf uns. Bestand er vielleicht aus irgendwelchen neuen und andersartigen Atomen?
»He, Manni«, sagte Mr. Steiner zu seinem Sohn.
Der Junge hob weder den Kopf, noch ließ er sich sonstwie anmerken, daß er ihn gehört hatte; er spielte weiter mit dem Gegenstand herum.
Ich werde an die Urheber des Gesetzentwurfs schreiben, dachte Steiner, und ihnen mitteilen, daß ich ein Kind im Camp habe. Und daß ich ihrer Meinung bin.
Seine Gedanken erschreckten ihn.
Mord, an Manfred - wurde ihm klar. Mein Haß auf ihn bricht hervor, freigesetzt durch diese Nachricht. Jetzt verstehe ich, warum sie heimlich darüber beraten; ich wette, viele Menschen haben diesen Haß. Im Innern, unbemerkt.
»Keine Flöte für dich, Manni«, sagte Steiner. »Weshalb sollte ich sie dir schenken, möchte ich wissen? Kümmert dich das überhaupt? Nein.« Der Junge blickte nicht auf und ließ auch nicht erkennen, daß er ihn gehört hatte. »Nichts«, sagte Steiner. »Leere.«
Während Steiner dastand, näherte sich ihm der große schlanke Dr. Glaub in seinem weißen Kittel mit einem Klemmbrett in der Hand. Steiner bemerkte ihn plötzlich und erschrak.
»Es gibt da eine neue Theorie über Autismus«, sagte Dr. Glaub. »Aus Burghölzli in der Schweiz. Ich möchte sie gern mit Ihnen besprechen, weil sie uns einen neuen Zugang zu Ihrem Sohn hier verschaffen könnte.«
»Das bezweifle ich«, sagte Steiner.
Dr. Glaub hatte es anscheinend nicht gehört, er fuhr fort: »Sie vermutet eine Störung im Zeitgefühl des autistischen Individuums, durch die alles in seiner Umwelt so beschleunigt vor sich geht, daß es dabei nicht mithalten kann, ja nicht einmal fähig ist, diese richtig wahrzunehmen, genauso als wenn wir eine Fernsehsendung im Zeitraffer in uns aufnehmen sollten, bei der die Gegenstände so schnell vorüberflitzen, daß man sie gar nicht erkennen kann, und bei der die Geräusche ein einziges Kauderwelsch bilden - verstehen Sie? Bloß noch einen extrem schrillen Tonmischmasch. Also, diese neue Theorie versetzt das autistische Kind nun in einem geschlossenen Raum vor eine Leinwand, auf die in Zeitlupe Filmsequenzen projiziert werden - können Sie mir folgen? Ton und Bild werden verzögert und sind schließlich so langsam, daß weder Sie noch ich überhaupt eine Bewegung feststellen oder den Ton als menschliche Sprache wahrnehmen könnten.«
Müde sagte Steiner: »Faszinierend. Es gibt doch immer wieder was Neues in der Psychotherapie, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Dr. Glaub und nickte. »Besonders bei den Schweizern; es ist genial, wie sie die Weltsicht gestörter Personen und abgekapselter Individuen erfassen, die von normalen Kommunikationsmöglichkeiten ausgeschlossen sind, isoliert - verstehen Sie?«
»Ich verstehe«, sagte Steiner.
Dr. Glaub, der immer noch nickte, war weitergegangen und bei einem anderen Besucher stehengeblieben, einer Frau, die neben ihrem kleinen Mädchen saß und sich mit ihr ein leinengebundenes Bilderbuch ansah.
Hoffnung vor der Sündflut, dachte Steiner. Ob Dr. Glaub weiß, daß die Behörden drüben auf der Erde Camp B-G jeden Tag schließen können? Der gute Doktor arbeitet in idiotischer Unschuld einfach weiter ... glücklich in seinen Lehrgebäuden.
Steiner ging Dr. Glaub nach und wartete eine Gesprächspause ab, bis er sagte: »Doktor, ich möchte mich gern noch weiter mit Ihnen über diese neue Theorie unterhalten.«
»Ja, ja«, sagte Dr. Glaub und entschuldigte sich bei der Frau und ihrem Kind; er nahm Steiner zur Seite, damit sie privat miteinander sprechen konnten. »Dieses Konzept von Zeitgeschwindigkeiten könnte uns einen Zugang zu Bewußtseinen eröffnen, die von der unmöglichen Aufgabe, in einer Welt, in der alles rasend schnell vor sich geht, so erschöpft sind, daß ...«
Steiner unterbrach: »Angenommen, Ihre Theorie stimmt. Wie können Sie so einem Individuum helfen, es wieder funktionsfähig machen? Wollen Sie, daß es den Rest seines Lebens in einem geschlossenen Raum vor einer Leinwand mit Zeitlupenfilmen verbringt? Ich finde, Doktor, daß Sie hier alle nur ihre Spielchen spielen. Sie stellen sich nicht der Realität. Keiner von Ihnen hier in Camp B-G. Sie sind ja so rechtschaffen. So arglos. Aber die Welt da draußen - die ist nicht so. Hier drin ist alles edelmütig und idealistisch, aber Sie machen sich etwas vor. Und deshalb machen Sie auch den Patienten etwas vor; entschuldigen Sie, daß ich das sage. Aber dieser Raum mit der Leinwand und den in Zeitlupe ablaufenden Filmen, das ist bezeichnend für Sie alle hier, für Ihr Verhalten.«
Dr. Glaub hörte zu und nickte dabei mit gespannter Miene. »Uns wurden die erforderlichen Geräte versprochen«, sagte er, als Steiner fertig war. »Von Westinghouse, drüben auf der Erde. Die Verbindung mit anderen wird in der Gesellschaft hauptsächlich durch Laute hergestellt, und Westinghouse hat einen Audiorecorder für uns entwickelt, der die ans psychotische Individuum - zum Beispiel Ihren Sohn Manfred - gerichtete Mitteilung auffängt und sie dann, sobald diese Mitteilung auf Eisenoxidband aufgezeichnet ist, für ihn gleich darauf mit langsamerer Geschwindigkeit wieder abspielt, sie danach selbsttätig löscht und die nächste Mitteilung aufzeichnet und so weiter, mit dem Ergebnis, daß nach seinem eigenen Zeitmaß ein ständiger Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten wird. Und später steht uns hier hoffentlich ein Videorecorder zur Verfügung, der ihn mit einer ständigen, aber eben verlangsamt ablaufenden Aufzeichnung des sichtbaren Bereichs der Realität versorgt, synchronisiert mit dem Audioteil. Zugegeben, er wird immer einen Schritt vom Kontakt mit der Realität entfernt sein, und die unmittelbare Berührung bleibt auch weiterhin ein Problem - aber ich kann Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie meinen, das sei alles zu idealistisch, um von Nutzen sein zu können. Denken Sie an die weitverbreitete Therapie mit chemischen Präparaten, die vor noch gar nicht langer Zeit ausprobiert wurde. Stimulantien beschleunigten das innere Zeitgefühl des Psychotikers, so daß er die auf ihn einprasselnden Reize aufnehmen konnte, doch kaum ließ die Wirkung des Stimulans nach, nahm auch die Wahrnehmung des Psychotikers in dem Maß wieder ab, wie sein schadhafter Metabolismus wirksam wurde - verstehen Sie? Trotzdem haben wir viel daraus gelernt; wir haben gelernt, daß Psychosen eine chemische Grundlage haben, keine psychologische. Sechzig Jahre irriger Vorstellungen wurden mit einem einzigen Experiment, der Anwendung von Natriumamytal, hinweggefegt und ...«